Aufbruch

Irgendwie war alles so ganz anders gekommen als er es sich vorgestellt hatte. Ihm war kalt, der Wind blies jetzt schon deutlich heftiger, die Temperaturen sanken täglich und näherten sich der Frostgrenze. Wenn das so weiterging, würde er sich eine andere Bleibe suchen müssen. Sein dünnes Zelt am Kanal konnte ihn nicht mehr schützen.

Eine Münze fiel in die Konservendose, die vor ihm stand. Ein mitleidiger Blick streifte ihn. Er zog die Decke enger um seine Schultern als ihn die nächste Windböe erfasste. Was war nur aus seinem Leben, was war aus ihm und seinen Träumen geworden. Er saß als Bettler in der Stadt, die ihm damals als El Dorado der grenzenlosen Möglichkeiten erschienen war. Konnte er noch tiefer sinken? Weiterlesen

Andacht zur Jahreslosung

Du bist ein Gott, der mich sieht. (1. Mose 16,13)

Es ist eigentlich eine traurige Geschichte, die aber, Gott sei Dank, einen glücklichen Ausgang nimmt: Sara, Abrahams Frau, bekommt keine Kinder. Deshalb schlägt sie ihrem Mann vor, dass er mit ihrer ägyptischen Magd Hagar einen Nachkommen zeugt, der dann nach damaligem Recht als ihr eigenes Kind gelten soll. Als Hagar merkt, dass sie schwanger ist, macht sie sich über die unfruchtbare Herrin lustig – und Sara schickt sie aus Wut darüber nicht nur sprichwörtlich in die Wüste. Weiterlesen

Heilige Mutter Gottes, vertreibe Putin!

Am 21. Februar 2012 drang die Frauen-Punk-Band Pussy Riots in der Moskauer Christ-Erlöser-Kirche in den Altarraum ein und führte ein „Punk-Gebet“ auf. Das Gebet richtete sich gegen die enge und korrupte Verbindung von Staat und Kirche in Russland und gipfelte in dem lauten Ruf: „Heilige Mutter Gottes, vertreibe Putin!“

Der Auftritt dauerte genau 41 Sekunden, dann griff die Polizei ein und verhaftete die Frauen. Die russisch-orthodoxe Kirche verurteilte den Auftritt und unterstütze das Strafverfahren gegen die Band. Die Band habe religiöse Gefühle verletzt. Jekaterina Samuzewitsch, Nadeschda Tolokonnikowa und Marija Aljochina wurden im Sommer 2012 wegen „Rowdytums aus religiösem Hass“ zu je zwei Jahren Haft und Arbeitslager verurteilt. Weiterlesen

„Den Müden Kraft!“

Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden. (Jesaja 40,31)

Manchmal scheinen die vorgeschlagenen Bibeltexte für die jeweiligen Sonntage gerade jetzt, inmitten der Coronazeit, besonders in unsere Zeit zu sprechen. Der Text für den Sonntag Ende April, an dem wir unseren vierten Telefongottesdienst gefeiert haben, war so einer. Es ist ein Text für Krisenzeiten.

Das Volk Israel sitzt im Exil in Babylon. Der Tempel in Jerusalem ist zerstört. Die babylonischen Herrscher sind an der Macht. Sie verehren ihre eigenen Götter, sie bestimmen, was erlaubt ist und was nicht. Sehnsucht nach zu Hause. Wann wird es endlich wieder so sein, wie es war? Was ist mit unserem Gott? Lässt er uns etwa allein? Gibt es ihn vielleicht gar nicht? Oder ist er einfach nur schwächer als die Götter der Herrscher? Der Text ist ein Text für Krisenzeiten. Ein Text, der dich nimmt und schüttelt: Da, schau hin! Siehst du nicht? Weiterlesen

Blick nach vorn

Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes. (Lukas 9,62)

„Dreh dich nicht um, der Plumpsack geht um; wer sich umdreht oder lacht…‟ Wie oft habe ich als Kind mit anderen zusammengesessen und dieses Spiel gespielt. Und ich weiß noch sehr genau, wie schwer das war, sich nicht umzudrehen. Manchmal hat man versucht, nach links oder rechts hinten zu blinzeln oder vorsichtig mit einer Hand zu tasten, ob der Plumpsack vielleicht doch hinter einem liegen geblieben ist.

Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes: Dieses Bild, nicht zurückzublicken, wird öfter in der Bibel verwendet. Zum Teil auch in durchaus bekannteren Geschichten und Worten. In dieser Geschichte bei Lukas, aus der unser Vers stammt, bittet jemand, der Jesus nachfolgen will, um die Erlaubnis, zunächst noch seinen Vater zu beerdingen und Jesus antwortet: „Lass die Toten ihre Toten begraben; du aber geh und verkünde das Reich Gottes!“ (Lukas 9,59-60).

Einem anderen, der sagt, dass er sich nur eben noch von seiner Familie verabschieden möchte, antwortet er mit dem eingangs zitierten Satz: „Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.“ Das sind ziemlich heftige Worte und dieser Umgang mit den Menschen, die zu ihm kommen, die bereit sind, alles andere stehen und liegen zu lassen, um mit ihm zu ziehen, dieser Umgang ist alles andere als einfühlsam oder gar seelsorgerlich. Weiterlesen

Zweige am Baum des Lebens

Holz auf Jesu Schultern, von der Welt verflucht, ward zum Baum des Lebens und bringt gute Frucht. Kyrie eleison, sieh, wohin wir gehen. Ruf uns aus den Toten und lass uns auferstehn. (Evangelisches Gesangbuch Nr. 97, Strophe 1. Text: Jürgen Henkys nach dem niederländischen Met de boom des levens von Willem Bernard)

„Holz auf Jesu Schultern“ gehört zu den Passionsliedern, denen ich viel abgewinne und die ich zudem gerne singe. Wie im bekannteren Lied „Korn, das in die Erde, in den Tod versinkt“ (EG 98) wird auch hier schon auf Ostern angespielt, ohne die Bedeutung des Leidens Jesu für uns zurückzudrängen. Karfreitag und Ostern, Tod und Auferstehung gehören untrennbar zusammen. Ohne Ostern fehlt dem Tod Jesu Wesentliches und ohne den Tod Jesu macht Ostern wenig Sinn.

Jesus von Nazareth wurde zu Unrecht hingerichtet. Ihm wurde zum Verhängnis, dass er die herrschenden Schichten offen und zielgenau kritisierte. Er bohrte in der Wunde des Widerspruchs von Anspruch und Wirklichkeit und überführte so die Intellektuellen und Führenden seines Volkes der Bigotterie und Heuchelei. Es tut weh, überführt zu werden. Und viele Menschen reagieren, wenn sie überführt werden, mit Wut auf den, der ihre Blöße offengelegt hat. Dann fragt man sich: Wie kann er mich nur so das Gesicht verlieren lassen? Weiterlesen

Mit Gelassenheit und Gottvertrauen

Ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll. (Römer 8,18)

Der Philosoph Friedrich Nietzsche hat einmal geschrieben: „Die Christen müssten mir erlöster aussehen. Bessere Lieder müssten sie mir singen, wenn ich an ihren Erlöser glauben sollte.“ Und er hat damit einen wunden Punkt angesprochen. Man sieht und merkt uns Christinnen und Christen, das Glück Gottes Kinder zu sein, oft nicht an. Eher befremdet es uns, wenn Menschen glückselig lächelnd von ihrem Glaubensglück erzählen und wir werden vorsichtig, ob da nicht einer bei einer Sekte gelandet ist.

Das ist vermutlich aber auch nicht, wonach Nietzsche gefragt hat. Es ging ihm wahrscheinlich um eine im Glauben gründende Gelassenheit – einen wahrnehmbaren Unterschied zur Getriebenheit des Menschen. Loslassen können ist eine Lebenskunst, die Jesus den Menschen nahegelegt hat: Sorgt euch nicht um die Zukunft, vertraut auf Gott. Weiterlesen

Große Verheißung für unruhige Zeiten

Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens (Lukas 2,14)

Vor etwa zwölf  Stunden erklang dieser Ruf der Engel in Australien. Mit der Drehung der Erde gelangte er einige Stunden später nach Indien, dann nach Russland. Und jetzt zu uns: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.“ Mit Weihnachten feiern wir ein weltumspannendes Fest, das uns Christinnen und Christen rund um den Globus verbindet. Einem ganzen Volk wird lauter Jubel und große Freude versprochen – hören wir auf die Worte des Propheten Jesaja: „Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell. Du weckst lauten Jubel, du machst groß die Freude“ (Jesaja 9,1.2a).

Die Zeiten sind unruhig – die Lebenschancen ungerecht verteilt. Die einen leben auf Kosten der anderen. Mitten hinein in diese finstere Zeit spricht der Prophet vom Licht. Kaum zu glauben. Und trotzdem entfalten seine Hoffnungsworte unglaubliche Kraft. Weiterlesen

Gott wartet auf uns

…und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut! (Genesis 1,31)

So lautet das abschließende Urteil Gottes am Ende seines sechsten Schöpfungstages.
Formuliert haben diese Worte, vor über 2000 Jahren, Menschen, die die Erfahrung des babylonischen Exils gerade hinter sich hatten. Trotz des Exils – oder gerade wegen des Exils – konnten sie erkennen, wie Gott es mit seiner Schöpfung meint.

Und sie haben auch erkannt, dass Gott mit seiner Schöpfung dem Menschen das besondere Geschenk der Freiheit mitgegeben hat. Dieses Geschenk ist Gabe und Aufgabe zugleich, denn die Freiheit zu entscheiden fordert seitdem jeden Menschen neu. Weiterlesen