Dieser Beitrag wurde 167 mal aufgerufen

Aufbruch

Irgendwie war alles so ganz anders gekommen als er es sich vorgestellt hatte. Ihm war kalt, der Wind blies jetzt schon deutlich heftiger, die Temperaturen sanken täglich und näherten sich der Frostgrenze. Wenn das so weiterging, würde er sich eine andere Bleibe suchen müssen. Sein dünnes Zelt am Kanal konnte ihn nicht mehr schützen.

Eine Münze fiel in die Konservendose, die vor ihm stand. Ein mitleidiger Blick streifte ihn. Er zog die Decke enger um seine Schultern als ihn die nächste Windböe erfasste. Was war nur aus seinem Leben, was war aus ihm und seinen Träumen geworden. Er saß als Bettler in der Stadt, die ihm damals als El Dorado der grenzenlosen Möglichkeiten erschienen war. Konnte er noch tiefer sinken?

Seine Gedanken verloren sich in die Zeit als er aufgebrochen war. Das Leben seiner Eltern und seiner Freunde in der kleinen Stadt fand er unerträglich. Er verachtete sie sogar, weil sie kein Leben lebten. Jedenfalls nicht aus seiner Sicht.  Er brauche Luft zum Atmen, neue Menschen, andere Freunde, Weite zum Denken. Ja, er würde gehen, er musste gehen.

Als er seine Eltern damit konfrontierte, erwartete er Protest, Vorwürfe ja sogar Enterbung. Sie waren nicht reich, aber immerhin hatten sie für seine Ausbildung gespart. Das Geld konnte er wohl abschreiben, dachte er damals. Trotzig, ja fast feindselig war er ihnen gegenübergetreten.

Wenn er heute an diesen Moment dachte, überkam ihn eine Gänsehaut. Doch die Reaktion überraschte ihn: „Wenn du meinst, dass du mehr Freiheit brauchst, dann werden wir dich nicht aufhalten. Du musst wohl deinen eigenen Weg finden.“ Das waren die Worte seines Vaters. Wollte er ihm mit dieser verständnisvollen Masche ein schlechtes Gewissen einreden? Das Geld gaben sie ihm ohne ein Wort der Ermahnung. Seltsam fand er es damals, doch letztendlich war es ihm auch egal. Nur weg.

Und die große Stadt hielt, was er sich von ihr versprochen hatte. Endlich konnte er so leben, wie er es sich immer gewünscht hatte. Hier schienen alle Konventionen außer Kraft gesetzt. Bunte Geschäfte und Märkte, Museen und Theater warteten darauf, entdeckt zu werden. Er traf Menschen mit geradezu revolutionären Ideen von einer besseren Welt und verbrachte lange Nächte in Szenelokalen. Und er gehörte dazu.

Zu spät hatte er begriffen, dass auch die große Stadt Regeln kennt. Auch hier gab es einen Alltag. Man braucht Geld zum Leben und zum Überleben. Er hatte nicht bemerkt, dass die meisten Freunde, die er kannte, Pläne hatten für ihre Zukunft. Bei ihm gab es keinen Plan, auch jetzt nicht. Darüber hatte er sich mit seiner Sucht nach Leben keine Gedanken gemacht.

Sein Geld war weg, sein WG-Zimmer Vergangenheit, seit Monaten saß er auf der Straße und versuchte sich mit etwas Gitarrenmusik über Wasser zu halten. Es gab keine Arbeit für ihn, weil viele in dieser Stadt nach Arbeit suchten und für das, was ihm angeboten wurde, bekam er einen Hungerlohn, außerdem war es oft nicht legal. Der Winter stand unmittelbar bevor. Wohin sollte er gehen?

Zum ersten Mal seit langer Zeit dachte er an seine Eltern. Er hatte sich nie gemeldet. Ihre Versuche, ihn zu erreichen, waren von ihm ignoriert worden. Plötzlich kamen ihm Tränen, warum wusste er nicht. War es Selbstmitleid, war es, weil er sich zum ersten Mal eingestand, dass er gescheitert war?  Selbst wenn er gewollt hätte, er hatte kein Geld, um nach Hause zu fahren. Und nach dieser langen Zeit und seiner überheblichen Ignoranz wollten sie ihn zu Hause sowieso nicht sehen.

Seufzend blickte er in seine Dose und er traute seinen Augen nicht: Es steckte ein 100-Euro-Schein darin. Ungewöhnlich, fast wundersam. Gedankenverloren hatte er den großzügigen Spender gar nicht wahrgenommen. War das jetzt ein Zeichen? Unsinn, sowas gab es nicht. Seine Eltern glaubten an sowas, sie glaubten auch an Gott, einen persönlichen Gott, dem sie vertrauten und mit dem sie sprachen. Aber selbst wenn es ihn gab, dann hätte er sicher kein Interesse an so einem wie ihm.

Aber wieso war da plötzlich das Geld? Für ein Ticket in seine Stadt reichte es. Sollte er wirklich diese Reise antreten, abgerissen wie er war? Er konnte nichts, aber auch gar nichts vorweisen und er hatte immer noch keinen Lebensplan. Die Eltern würden entsetzt sein, zu Recht. Würden sie ihn überhaupt aufnehmen?  Doch wenn er jetzt zögerte, würde er den Mut nicht noch einmal aufbringen, das spürte er. Es konnte nicht schlimmer werden.

Ja, er würde zugeben, dass er ihnen unrecht getan hatte und er würde arbeiten, um ihnen das mühsam ersparte Geld wieder zurückzuzahlen. Er würde sein Leben ändern müssen, Pläne entwickeln, ganz klein anfangen. Er würde sie um Verzeihung bitten. Es wurde ihm immer klarer, dass es gar keine Alternative gab. Er brach auf.

Dann stand er vor dem Haus der Eltern mit klopfendem Herzen. Seine Worte hatte er auf der Fahrt immer wieder sorgfältig formuliert. Er drückte auf die Klingel. Er wollte es nicht und doch waren sie plötzlich da, diese drei Worte: Bitte Gott, hilf!

Die Tür öffnete sich, der Vater stand vor ihm. Sie sahen sich an und dann stammelte er die Worte, die er sich zurechtgelegt hatte. Doch alles, was er sagte, erschien ihm hohl und sinnlos. Aber da waren plötzlich Arme, die ihn umfingen und ihn hineinzogen in die Wärme des Hauses. Da war auf einmal nur noch Freude, Liebe und Geborgenheit. Sein leises, fast unhörbares „Danke Gott“ ging beinahe in der Wiedersehensfreude unter. Ja, er war angekommen, weil er sich auf den Weg gemacht hatte!

Gabriele Blech