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Im Kopf die ganze Welt – Zum 300. Geburtstag von Immanuel Kant

Die Wochenzeitung DIE ZEIT veröffentlichte am 4. Januar 2024 eine große Artikelreihe über Immanuel Kant, anlässlich seines 300. Geburtstages am 22. April 1724. Ich zitiere den Autor, Dr. Peter Neumann:

„Es war schließlich Putin [Vorname Wladimir = Friedensherrscher – Ergänzung von mir, E.S.] selbst, der seine Rede im Bundestag 2001 auf Deutsch ‚in der Sprache von Kant‘ halten wollte, der im Rahmen des deutsch-russischen Petersburger Dialogs 2002 nach Weimar kam und dem anderen deutschen Weltendenker Goethe huldigte und der 2005, am 750. Jahrestag Königsbergs, zusammen mit dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder der Kaliningrader Universität den Namen ‚Immanuel Kant-Universität‘ verlieh. Kant als Gewährsmann für einen gesuchten Kriegsverbrecher, gegen den ein Haftbefehl aus Den Haag vorliegt.“

Das ist ein nicht unerheblicher Tatbestand. Doch nun zu etwas anderem, aber damit Zusammenhängenden, was die meisten, auch ich, nicht wissen: es ist ein russisches Wunder-Wort: M I R: das heißt: der Friede und die Welt. In diesem Wort stecken „ganze Welten“.

Kant hatte mit diesem russischen Wort nichts zu tun. Aber in seinem Leben kam es doch zur Begegnung, besser zur Petition an die russische Kaiserin. Hören wir: Im Siebenjährigen Krieg besetzten russische Truppen ab 1758 vier Jahre lang das preußische Königsberg. Kant wurde so Untertan der Zarin Elisabeth. Ihr schrieb er einen untertänigen Bittbrief, in dem er um eine Professur an der dortigen Universität bat. Elisabeth wies Kants Bitte zurück. Erst 1770, zwölf Jahre später, als die Russen schon längst wieder weg waren, erhielt er sie. Da war Kant 46 Jahre alt, so alt wie Paul Gerhardt, als dieser seine erste Pfarrstelle antrat.

Immanuel Kant erklärt uns die Aufklärung:

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbst verschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht an Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“

Sapere aude = Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! So lautet also der Wahlspruch der Aufklärung.

Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen, dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und darum es Anderen so leicht wird, sich zu Vormündern aufzuwerfen.

Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt usw., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen.“

Hört sich das nicht sehr modern an, in unsere Zeit passend?

Doch vorerst zu Kant sehr persönlich kennzeichnenden Eigentümlichkeiten: „Es kann noch nicht sieben (19Uhr) sein, Professor Kant ist noch nicht vorbeigegangen.“ Das war eine in Königsberg sehr bekannte Redensart. Kants Leben war sehr einfach. Sein Hauptstreben ging dahin, sich von jeder Beunruhigung und Störung so frei wie möglich zu halten. Seine persönliche Unabhängigkeit und Freiheit wollte er auf keinen Fall opfern. Er machte daher möglichst keine Schulden und übernahm keine Verpflichtungen.

Jede Störung war ihm zuwider. Die Musik war ihm eine zudringliche Kunst, was mir persönlich am allerwenigsten gefällt. Ja, er wechselte seine Wohnung, als er einen Hahn, der immer zu früh krähte (obwohl Kant ja immer gegen 5 Uhr früh aufstand), nicht kaufen konnte.

Er war bis zur Peinlichkeit pünktlich. Jahrelang verlebte er seinen Nachmittag nach dem fürstlichen gemeinschaftlichen Menü, das sein Diener Lampe fertigte, in folgender Weise: Er ging ins Haus seines Freundes Green, eines englischen Kaufmanns und fand ihn beim Eintritt in dessen Zimmer in einem gemütlichen Armstuhl schön schlafend vor. Kant setzte sich dann in einen weiteren Armstuhl und pflegte seinerseits den Schlaf. Später kamen Bankdirektor Ruffinan und noch ein vierter Freund in diese Schlafrunde hinzu. Letzterer weckte die anderen Schlafbrüder und die Unterhaltung begann. Diese dauerte genau bis 19 Uhr, dann brach die Gesellschaft auf.

Diese Regel wurde so streng beobachtet, dass Kant für die Bewohner Königbergs in den entsprechenden Straßen als Zeitmesser galt, wie ich eben bemerkte. „Eigenbrötler“ wurde Kant von manchen Zeitgenossen genannt.

Im Kopf hatte er die ganze Welt, aber keinen Hass. Er suchte die ganze Welt zu sammeln, zu systematisieren und zu ordnen. In dieser Ordnung fand der Hass keinen Platz. Wenn das von einem Menschen ausgesagt werden kann, dann ist mir die schwierige Frage, ob Kant ein Christ gewesen sei, nicht so entscheidend. Denn Jesus war der Mensch ohne Hass. Das ist heute so aktuell wie Sophokles` Antigone, deren Selbstverständnis in ihren Worten steckt: Nicht mit zu hassen, vielmehr mit zu lieben bin ich da. Hass zu verbreiten ist heute geradezu beliebt. Gott sei‘s geklagt.

Schauerlichen Krieg und die bittere Französische Revolution hat er persönlich nicht miterlebt. Nur durch die Zeitungsnachrichten, die er „verschlungen“ hat, dem Austausch mit Handelsgrößen, Dialog mit anderen Universitätsprofessoren über die internationalen Aufklärer wie David Hume, John Locke, Jean-Jaques Rousseau (dessen Bildnis war das einzige, welches in seinem Esszimmer hing!), François-Marie Arouet Voltaire und Gottfried Wilhelm Leibnitz stand er auf der Höhe seiner Zeit. Das ist Genialität, wenn er die Welt in seinem Kopf hat und diese Welt-Denker „zusammenfassen“ kann, wenn ich so sagen darf.

Die deutschen Denker und Sozialrealisten stehen bei den Russen in hohem Ansehen: Karl Marx und Friedrich Engels, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Immanuel Kant als Weltendenker. Kant gilt vielleicht als der einflussreichste Philosoph der Neuzeit.

In Russland ist jedoch eine eigentümliche Kontroverse über eben diesen Philosophen entbrannt, aus der wir sehr Widersprüchliches über den Kriegsverbrecher Wladimir Putin erfahren. In Kaliningrad, in Königsberg „wimmelt es von Kant“. Es gibt Kant-Tassen und Kant-Büsten, ein Kant-Hotel und ein Kant-Restaurant, einen Kant-Market; es gibt ein Kant-Museum, die Kant-Universität, das Kant-Denkmal, dessen Wiedererrichtung eine Geschichte für sich ist, und Kants Grab am wieder hergestellten Dom. Hier lassen sich die russischen Hochzeiter schon seit langer Zeit fotografieren, sehr eigenartig. – Aber dort könnten auch russische Atombomben lagern!?

Wladimir Putin hat sich vom „Friedens-Engel“ in einen „Kriegs-Teufel“ gewandelt. Diese Veränderung zeigt sich in der inneren Verfasstheit der Autokratie Putins. Der kosmopolitisch-universelle Denker Kant, von dem die oben zitierten Sätze wie: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ stammen, fordert eine individuelle Verantwortung des Einzelnen für ethisches Handeln ein und regte eine Art unmittelbare Pflicht der Völker zum Frieden an: er hat die große Schrift „Zum ewigen Frieden“ verfasst, die 1795 in Königberg veröffentlicht worden ist.

Der Vorname Wladimir kann mit Friedensherr übertragen werden. Das russische Zauberwort „mir“ bedeutet Frieden und Welt, wie wir eingangs ausführten. Putin hat sich einst, noch vor etwa 20 Jahren, als „Kantianer“ gesehen. „Kant war ein kategorischer Gegner der Beilegung zwischenstaatlicher Streitigkeiten durch Krieg. Und wir versuchen, uns an diesen Teil der Lehre zu halten“, sagte er 2005 an Kants Grab am Dom. Doch von da an bis heute sind es, wie gesagt, bald zwanzig Jahre. Und seitdem: russische Völkerrechtsbrüche, Umbau des Landes in eine Autokratie und Krieg.

In der Gegenwart ist auch Immanuel Kant nicht mehr unangreifbar. 2024 haben wir, so sagt der erst 37jährige, sich aufmandelnde Gouverneur von Kaliningrad Anton Alichanow, den Mut zu behaupten, dass nicht nur der Erste Weltkrieg, sondern auch der Ukraine-Konflikt mit Kant begonnen hat. Ungeheuerlich! Eine russische Kant-Neuinterpretation in Putinschem Ungeist. Kant als Mitschöpfer des modernen Westens und des globalen Chaos, ja noch mehr: Kant stehe in Verbindung zum militärischen Konflikt in der Ukraine. Alichanow ist Mitglied der Putin-Partei „Einiges Russland“. Incredibile est auditu = ist unglaublich zu hören!

Kant habe den Weg zum moralischen Relativismus des Westens vorgeprägt, in dem angeblich jedes Unrecht gerechtfertigt werden könne. Das stehe im Gegensatz zu Russland, das an der Willenskraft von Gott und den höheren Werten, den ewigen ethischen Werten festhalte. Naja!? Jetzt kommt´s noch stärker: Kant befreite die deutsche Willenskraft ganz und gar. So konnte sie auf die Waffen Krupps vertrauen, die dann auf Russland abgefeuert wurden.

Kant habe Gott durch Vernunft ersetzt und für das individuelle Handeln geworben, dadurch den Weg zur westlichen Dekadenz freigemacht. Bizarre Thesen, für die Alichanow in Russland Beifall erhielt, etwa von Putins „Hausphilosoph“ Alexander Dugin.

Und ja, der nationalrussische Schriftsteller und einflussreichste Intellektuelle Russlands, Konstantin Krylow (er starb 2020), ging noch weiter. Er nannte Kants berühmteste Maxime, den „Kategorischen Imperativ“ („Handle als Einzelner stets so nach der Maxime, dass du zugleich wollen kannst, sie solle Gesetz für alle Vernunftwesen werden“), „das ethische System des Westens“ und sprach Kant die Kultur übergreifende Wirkung und dem Ausdruck der Toleranz die Allgemeingültigkeit ab.

Russische Nationalisten gefiel das sehr: den Namen der Stadt Kaliningrad in Kantgrad zu verändern fanden sie abscheulich, ebenso wenig wollten sie den Flughafen in Kant-Flughafen umtaufen lassen, ja sie bewarfen 2018 sein Denkmal als „Fremden und Vaterlandsverräter“ mit pinken Farbbeuteln.

Ich finde jetzt: das reicht. Und schließe meinen Beitrag so, wie ich ihn begonnen habe, mit einem Zitat. Oxana Tomofeeva (45) ist eine russische Philosophin, die in St. Peterburg lehrt. Sie schreibt in DIE ZEIT vom 4. Januar 2024:

„Es gibt einen berühmten Slogan, der nach den Zweiten Weltkrieg untrennbarer Bestandteil der sowjetischen Staatsideologie war: ‚Miru mir‘. Das bedeutet: Frieden für die Welt. Was Kants Kosmopolitismus als politisches Prinzip meint, ist genau dies: Frieden für die Welt. Es kann keinen Frieden in einem einzelnen Land geben. Frieden kann nur dann von Dauer sein, wenn er auf der ganzen Welt herrscht. Welt und Frieden sind Synonyme.

Im Februar 2022, ganz am Anfang des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine, ereignete sich eine kleine, aber symbolträchtige Episode: in einer russischen Stadt wurde dieser alte Slogan Miru mir an den Wänden einiger Gebäude von den Stadtwerken abgekratzt. Generell wurden am Beginn des Krieges viele Menschen verhaftet, weil sie öffentlich demonstrierten: jede Art von Kosmopolitismus wird unmöglich gemacht.

(…)

Die Flüchtlinge sind ein ernstes Symptom. Wir bewegen uns in die falsche Richtung. Es gibt Elemente des Lebens, die vom Standpunkt der traditionellen Geopolitik zu klein und deshalb nicht zu erkennen sind. Ich denke an die Zivilbevölkerung, die Menschen, die in den vom Krieg betroffenen Gebieten leben – bombardiert, belagert, besetzt. Ich denke an die Flüchtlinge, an die Menschen, die keine Bleibe mehr haben.

Meine Verwandten [aus der Ukraine! – Ergänzung von mir, E.S.] leben bereits seit einem Jahr in einem Flüchtlingslager, in einem großen Zelt am Flughafen Tegel in Berlin. Sie sind ein Rentnerehepaar aus einem ukrainischen Dorf, wo sie ihr Haus und ihren Himbeergarten zurückgelassen haben. Sie lernen Deutsch und blicken optimistisch in die Zukunft: ein neues Leben zu beginnen, ist schwer, aber möglich. Flüchtlinge sind die neuen Kosmopoliten: was sie der Welt bringen ist der Frieden, den sie dem Krieg entrissen haben.“

Eckhard Schendel

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