Holz auf Jesu Schultern, von der Welt verflucht, ward zum Baum des Lebens und bringt gute Frucht. Kyrie eleison, sieh, wohin wir gehen. Ruf uns aus den Toten und lass uns auferstehn. (Evangelisches Gesangbuch Nr. 97, Strophe 1. Text: Jürgen Henkys nach dem niederländischen Met de boom des levens von Willem Bernard)
„Holz auf Jesu Schultern“ gehört zu den Passionsliedern, denen ich viel abgewinne und die ich zudem gerne singe. Wie im bekannteren Lied „Korn, das in die Erde, in den Tod versinkt“ (EG 98) wird auch hier schon auf Ostern angespielt, ohne die Bedeutung des Leidens Jesu für uns zurückzudrängen. Karfreitag und Ostern, Tod und Auferstehung gehören untrennbar zusammen. Ohne Ostern fehlt dem Tod Jesu Wesentliches und ohne den Tod Jesu macht Ostern wenig Sinn.
Jesus von Nazareth wurde zu Unrecht hingerichtet. Ihm wurde zum Verhängnis, dass er die herrschenden Schichten offen und zielgenau kritisierte. Er bohrte in der Wunde des Widerspruchs von Anspruch und Wirklichkeit und überführte so die Intellektuellen und Führenden seines Volkes der Bigotterie und Heuchelei. Es tut weh, überführt zu werden. Und viele Menschen reagieren, wenn sie überführt werden, mit Wut auf den, der ihre Blöße offengelegt hat. Dann fragt man sich: Wie kann er mich nur so das Gesicht verlieren lassen?
Und dann denkt man sich: Das zahle ich ihm heim. Die Mächtigen zur Zeit Jesu fürchteten um ihre Autorität über das Volk, hatten sie in der Begegnung mit Jesus doch immer wieder das Gesicht verloren und so beschlossen sie, Jesus töten zu lassen. Und so wurde Jesus das Kreuz auferlegt, an das ihn die Angst, der Neid, die Machtgier und der Hass der Menschen brachten – Jesus erlitt den Fluch, der durch Angst, Neid, Machtgier und Hass auf dieser Welt liegt. Wieder schien die Wahrheit Schiffbruch erlitten zu haben.
Wenn wir in der Passionszeit das Leid Jesu bedenken, gehört es auch dazu, dass auch wir uns überführen lassen, dass wir es zulassen, unser Gesicht zu verlieren, den Widerspruch von Anspruch und Wirklichkeit in unserem Leben erkennen. Wir wenden diesen Schmerz aber nicht gegen andere, sondern sehen zu, dass wir ihn produktiv werden lassen, indem er uns an unserem Leben arbeiten und so den Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit geringer werden lässt.
Hilfreich dabei ist zu erkennen, dass das Urteil für all das, was sich an Bosheit und Heuchelei in unserem Leben findet, bereits vollstreckt ist und die Strafe von uns genommen wurde: durch Jesus Christus am Kreuz. Dadurch sind wir frei, nach vorne zu blicken und daran zu arbeiten, zu lieben: uns selbst, unsere Nächsten und Gott. Um im Liedtext zu bleiben: Wir zu Zweigen am Baum des Lebens werden und gute Frucht bringen.
Denn wir sind verloren und wir werden gerettet. Der Liedtext fasst unser Verlorensein in klare und harte Worte: Ruf uns aus den Toten! Denn überall da, wo Neid, Angst, Gier, Hass in unserem Leben Macht über uns haben – wo wir Menschen ausgrenzen, ihnen schaden, das eigene Wohlergehen und den eigenen Vorteil an die erste Stelle der Prioritätenliste setzen, dort sind wir dem Tod unterworfen – was oft verführerisch glitzert, zum Teil gar als „das richtige Leben“ verkauft wird, lässt oft an der Liebe zum Nächsten und zu Gott vermissen, oft sogar an Liebe zu sich selbst.
Lass uns auferstehn! – so lautet die klare Bitte des Liedes. Wir wollen auferstehen, zum wahren Leben finden, aber wir schaffen es nicht allein, wir brauchen Gottes Hilfe dazu. Wir wollen uns frei machen von Angst, Neid, Gier und Hass und wollen mit Freude, Respekt, Solidarität und Liebe leben.
In Christus macht Gott uns dazu frei, denn durch die Taufe haben wir Anteil an Tod und Auferstehung Jesu Christi, durch die Taufe sind wir befreit zum Leben. Deswegen ist es auch gute Tradition an Ostern zu taufen. Weil wir aber auch als Getaufte immer wieder erleben, dass die Mächte des Todes Macht über uns haben, sind wir immer wieder gerufen, uns überführen zu lassen und unser Leben zum Guten hin wenden zu lassen, ist die Bitte: Ruf uns aus den Toten, lass uns auferstehen eine stets aktuelle. In diesem Sinne: Eine gesegnete Passions- und Osterzeit!
Martin Keßler