Dieser Beitrag wurde 956 mal aufgerufen

Martin Luthers Vater unser-Lied

Sieben Jahre vor seinem Tod 1546 hat der Reformator Martin Luther ein Lied zum weltumspannenden Herren-Gebet Vater unser gedichtet und komponiert, das seinesgleichen sucht. Felix Mendelssohn Bartholdy ist von der Melodie und den Strophen so angetan gewesen, dass er Sonaten-Variationen für Orgel für jede einzelne der neun Strophen komponierte. Wer sich ernsthaft mit diesem wunderbaren Lied auseinandersetzen möchte, der schlage unser Evangelisches Gesangbuch EG 344 auf. Dort kann man die Strophen verfolgen, denn ich zitiere den Text nicht im Einzelnen wegen der Kürze des Beitrags.

Gerhard Ebeling (1912-2001) hat im Fraumünster in Zürich Anfang der Sechzigerjahree darüber gepredigt (vgl. Vom Gebet – Predigten über das Unser-Vater, J.C.B. Mohr, Siebeck u. Tübingen 1963). Seine für mich wichtigste Erkenntnis war, dass Jesus sich gleichsam in diesem Gebet selbst auslegt mit seiner Verkündigung, seinem Kreuzestod und seiner Auferweckung und Erhöhung.

Wir finden das Vater unser-Gebet im Matthäus- und im Lukas-Evangelium (vgl. Matthäus 6,9-15; Lukas 11,1-4).

Strophe 1

Das Herren-Gebet beginnt mit der Anrede. Vater unser im Himmel. So auch das Lutherlied mit dem Unterschied Vater unser im Himmelreich. Das reimt sich besser. Gott mit Vater anzureden, ist auch dem Judentum nicht fremd. Aber in der strengen Regel nicht. Im christlichen Glauben schwingt in der Gottesanrede viel Nähe und Zärtlichkeit, ja viel gesellige Liebe und Zuneigung mit. Bei Paulus haben wir „einen kindlichen Geist, durch den wir rufen: Abba“, lieber Vater, Väterchen, Papa (vgl. Römer 8,15).

In den nächsten Sätzen der ersten Strophe steckt eine „Revolution“. „Der du uns alle heißest gleich, Brüder sein und dich rufen an…“ Klingen uns da nicht die Ohren? Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – Liberté, Egalité, Fraternité! Geschwisterlichkeit sagen wir heute zu Recht.

In der Französischen Revolution, rund 250 Jahre später als der Reformator, spricht der Revolutionär zum geschichtlichen Menschen des 18. Jahrhunderts. Bei Martin Luther spricht Gott durch seinen Sohn Jesus Christus im 1. Jahrhundert n.Chr.

Was sagt uns Jesus Christus? Vor Gott sind alle Menschen gleich, Juden und Samariter zumal zu seiner Zeit. Das erklärt er der Samariterin am Jakobsbrunnen. Das leuchtet hell im Gleichnis vom Barmherzigen Samariter auf. Das betont er in seiner verwunderten Nachfrage bei Heilung der zehn Aussätzigen. Habe ich nicht zehn geheilt?! Wo sind die anderen neun? Der einzige Geheilte, der sich bedankt, war ein Samariter.

Was ihr einem meiner geringsten Brüder, wir sagen Geschwister, getan habt, das habt ihr mir getan (vgl. Matthäus 25,31 ff.).

Jesus lehrte sein Jünger und alle seine Nachfolgerinnen und Nachfolger beten. Luther: „Du willst das Beten von uns han. Gib, dass nicht bet allein der Mund, hilf, dass es geh von Herzensgrund.“ Für den Jesus-Nachfolger Paulus ist Glaube ein herzlicher Glaube: „Wenn du mit deinem Munde bekennst, dass Jesus der Herr ist, und in deinem Herzen glaubst, dass ihn Gott von den Toten auferweckt hat, so wirst du gerettet“ (Römer 10,9).

Strophe 2

Luther sagt in seinem Kleinen Katechismus: Gottes Name ist zwar von sich selbst heilig, doch wir bitten, dass er auch bei uns heilig werde. Wodurch?

Im Lied heißt es: durch unser Leben und Verhalten und durch unseren Glauben, gegen jede falsche Lehre. Einfacher kann es niemand sagen.

Strophe 3

Jesus liebt die Gleichnis-Erzählung. Dein Reich komme – die dritte Bitte lassen wir uns von ihm selbst erklären, wie alles in seinem Gebet.

Als erstes fällt mir das Verhalten unseres Herrn ein, nicht ein Gleichnis. Als er Müttern mit ihren Kindern begegnete, ist er so begeistert, dass er folgende Aussage den Müttern macht über Gottes Reich, zum Unwillen seiner Jünger: „Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen“ (Markus 10,15). Da gehen die klugen Theologen „auf Grundeis“.

Als zweites fällt mir ein agrarisches Gleichnis ein (vgl. Matthäus 13,24 ff.). Jesus sagt: „Das Himmelreich gleicht einem Menschen, der guten Samen auf seinen Acker säte. Als aber die Leute schliefen, kam sein Feind und säte Unkraut zwischen den Weizen…“. Der ist bei Luther bekanntlich „der altböse Feind, mit Ernst er´s jetzt meint“. Er kommt natürlich auch im Lied vor: „des Satans Zorn und groß Gewalt“ bekämpft das Reich und die Kirche. Wer das zu Luthers Zeit ist, das wissen Sie sicher alle.

Auf ein drittes gehe ich nur kurz ein. Es ist auch kein Gleichnis, sondern ein Gespräch. Ein Schriftgelehrter will Jesus testen (vgl. Markus 12,28 ff.). Nachdem sich der Schriftgelehrte auf das zentrale Liebesgebot fokussiert hatte, bescheinigt ihm Jesus: „Du bist nicht fern vom Reich Gottes.“

Strophe 4

Bei der Bitte zum Gotteswillen fällt uns allen sicher Gethsemane aus der Passion Jesu ein. In der Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach bittet und betet Jesus dreimal: „Mein Vater, ist´s möglich so gehe dieser Kelch an mir vorüber; doch nicht wie ich will, sondern wie du willst“ (vgl. Matthäus 26,36 ff.).

Strophe 5

Der Kommentar zur fünften Strophe kommt nicht von Jesus, sondern aus unserm Ruhrpott. Er lautet:

„Gib uns geden Tach, wat wir für´t Leem brauchn, auch wennet et nur die tächliche Knifte is. Wattat heißt: mit diese Bitte geht et um mehr als wie nur um Brot vom Bäcker. Kurz gesacht: et jet um allet, wat Leib unn Seele beisamm´hält. Auch Jesundheit, Friede, Freunde. Und umm den Spass am Leem nich ze vergessen.

Der pensionierte Essener Pfarrer Walter Henßen hat das köstlich im wahrsten Sinne verfasst. Wir verstehen das sofort und mehr ist dazu kaum noch zu sagen. Oder doch?

Martin Luther sagt dazu in seiner fünften Strophe: „…behüt uns, Herr, vor Unfried, Streit, vor Seuchen und vor teurer Zeit.“

Das gilt auch für unsere Corona-Pandemie-Zeit 2020/21/22? Wie lange?? Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die weithin unbekannte Tatsache, dass der Verfasser des weltbekannten Liedes „Lobe den Herrn…“, Pfarrer Joachim Neander, im jungen Alter von 30 Jahren an der Seuche Pest sterben musste.

Strophe 6

„All unsre Schuld vergib uns, Herr…“  Wozu ruft uns Jesus auf? Er antwortet Petrus, seinem Erstberufenen, auf dessen Frage, wie oft er seinem Bruder vergeben soll, wenn der gesündigt hat, mit seiner sanften und eindringlichen Stimme: Immer! = 7mal 77 (vgl. Matthäus 18,21f.).

Ein „heutiger Jünger Jesu“, David Weinberger von der Harvard Universität, sagt es so: „Das Zeitalter der Transparenz muss ein Zeitalter des Vergebens sein.“

Strophe 7

Jetzt kommt die Versuchung dran. In der Geschichte Jesu, von dem der christliche Glaube wahrer Mensch und wahrer Gott bekennt, kommt sie zentral zur Sprache (vgl. Matthäus 4,1ff.). Jesus wird von dem Bösen schlechthin versucht. Doch Jesus hat im Unterschied zu Faust widerstanden.

Jesus hatte 40 Tage(!) in der Wüste gefastet. Er hatte großen Hunger. Teuflisch, listig sagt der Versucher zu ihm: „Lass diese Steine Brot für dich werden, wenn du Gottes Sohn bist.“  Jesu Antwort wurde klassisch: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort aus dem Munde Gottes.“

Der Böse scheitert auch im zweiten und dritten Versuch. Der Berg, auf den der Versucher Jesus beim dritten Versuch führt, wird heutzutage bei Jericho in Palästina gezeigt.

Strophe 8

Das Böse ist die Gewalt und die Gewalt ist das Böse. Jesus, unser Bruder und Herr, ist der Gewaltlose. Er muss den gewaltsamen, grausigen Foltertod am Kreuz erleiden. Doch Er bittet am Kreuz hängend um Vergebung für alle, die ihm Gewalt angetan haben. Für die Juden, die heidnischen Römer, für seine Jünger und Freunde. Verrat und Verleugnung ist ja eine psychische Form von Gewalt.

Die schlimmste Gewalt ist der Krieg aller gegen alle. Die Dreifaltigkeit möge uns davor bewahren. Doch nicht nur wahnsinnige Kriege der Militärs, sondern auch der Krieg innerhalb der Konfessionen der Christen, aller Religionen – Juden, Christen, Muslime, Hinduisten, Buddhisten usw. – ist das Böse schlechthin. Doch vergessen wir nicht die körperliche Gewalt unter uns Menschen. Ich könnte noch lange klagend-anklagend fortfahren.

Doch genug, aber nicht Schluss. Das Leid, die Verkrüppelung infolge der Kriege, die Seuchen, die Krankheiten dürfen nie vergessen werden.

Herr, erbarme dich und erlöse uns von dem Bösen.

Bei dieser fast aufschreienden letzten, siebenten Bitte des Vater unsers wirkt der Schluss wie ein dankbares Aufstöhnen. Diese Worte erscheinen wie eine wohltuende Herberge für unser Leben hier und dort. Denn das letzte Wort heißt Ewigkeit.

Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.

Für diese Ewigkeit gibt uns unser Herr eine freudige Verheißung. Hören wir, was Jesus zu seinen Jüngern und zu uns sagt (Johannes 16,22):

„Jetzt habt ihr Traurigkeit; aber ich will euch wiedersehen und euer Herz soll sich freuen und eure Freude soll niemand von euch nehmen.“

Welch schöne Verheißung für die zukünftige Ewigkeit in Gottes Himmelreich! Sie ist voller Kraft und voller Herrlichkeit. Glauben wir das wirklich oder tun wir nur so?

Wenn wir Jesus von Angesicht zu Angesicht sehen werden, dann werden wir auch unsere Lieben wiedersehen. Das folgert der Glaube logisch.

Strophe 9

In der neunten, letzten Strophe singt Martin Luther – und wir mit ihm: „Amen, das ist: es werde wahr. Stärk unsern Glauben immerdar, auf dass wir ja nicht zweifeln dran, was wir hiermit gebeten han auf dein Wort, in dem Namen dein, so sprechen wir das Amen fein.“

Ein Tipp: Klicken sie in Youtube an: Xaver Varnus, weltbekannter Organist aus Kanada, spielt auf der Silbermann-Orgel in Rötha die Variationen von Felix Mendelssohn Bartholdy. Sie werden es nicht bereuen!

Dr. Eckhard Schendel