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Wo sind unsere Toten?

Wir sehen vorläufig nur ein rätselhaftes Spiegelbild, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Heute erkenne ich bruchstückhaft, dann aber werde ich erkennen, wie ich von Gott erkannt worden bin. (1. Korinther 13,12)

Der Totensonntag gibt uns Gelegenheit, über den Tod nachzusinnen und an die Verstorbenen zu denken. Auf unserer Reise durch das Kirchenjahr ist er eine wichtige Station.

Wir sind nun mitten in der dunklen Jahreszeit. Alles Leben hat sich ins Innerste, in die Wurzeln zurückgezogen. Ohne diese Ruhephase wäre die Fülle des Sommers nicht möglich. Ohne den Winter, ohne das Absterben, ohne den Tod des alten Sommers, würde es die jungen, frischen Triebe des Frühjahrs nicht geben. Die dunkle Zeit mit ihren Gedenktagen erinnert uns an diesen immerwährenden Prozess der Wandlung. Sie erinnert uns daran: Werden und Vergehen gehören zur Schöpfung.

Nun ist das mit der Verwandlung gut und schön, solange es um die Natur geht, um den Garten und um die Jahreszeiten. Verwandlung aber ist schmerzhaft, wenn sie uns Tod und Vergehen bringt. Verwandlung ist schmerzhaft, wenn der Tod in unser Leben einbricht.

Hinter Vielen von Ihnen liegen schwere Abschiede. Kummer und Schmerz. Tränen. Einsamkeit. Verzweiflung, immer wieder. Nicht fassen können. Und viele Fragen. Die Erfahrung des Todes verändert uns. Wir beschäftigen uns mit Fragen, die so alt sind wie die Menschheit – die uns aber ganz neu vorkommen.

Die schlimmste und zerstörerischste Frage ist die nach dem Warum. Sie führt zu nichts. Außer zu den immer gleichen Schleifen, die uns wie einen Esel am Strick im Kreis herumführen und kein Ende finden. Es ist ganz einfach so: Es gibt kein Warum. Wir Menschen kommen auf diese Erde und wir verlassen sie. So wie alle Lebewesen kommen und auch wieder gehen.

Die andere Frage, die auftaucht, ist: Wo gehen unsere Toten hin? Wo sind sie jetzt? In der Kirche glauben wir: Sie sind bei Gott. Aber wie sieht das aus? Viele Menschen erzählen sehr glaubwürdig, dass sie die Anwesenheit der Toten mitunter spüren. Ich höre das nicht selten und ich kenne es auch aus eigener Erfahrung. Aber das ist natürlich keine leibhaftige, körperliche Anwesenheit. Wann immer ich einen toten Menschen sehe, den ich im Leben gut kannte – jedes einzelne Mal empfinde ich ein großes Geheimnis.

Manche sehen aus, als ob sie gleich wieder atmen würden – vor allem, wenn der Tod noch nicht so lange eingetreten ist. Und doch – und doch ist etwas gegangen, das sehr schwer in Worte zu fassen ist. Es ist so viel mehr als Herzschlag, als Puls und als Atem. Es ist das, was einen Menschen lebendig macht, was die Person ausmacht, ihr Wesen. Es hat den Körper verlassen.

Die Hülle ist noch da, aber das Eigentliche fehlt. Für mich ist dies das größte Wunder unseres Lebens. Und ich bin manchmal wirklich neugierig, was mit mir passieren wird, wenn mein Eigentliches einmal meinen Körper verlässt. Ich ahne, dass es ganz einfach sein wird – viel einfacher als umgekehrt selbst den Verlust und das Verlassen eines geliebten Menschen zu erleiden. Dieses Ahnen, das hat der Apostel Paulus einmal so beschrieben:

Wir sehen vorläufig nur ein rätselhaftes Spiegelbild, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Heute erkenne ich bruchstückhaft, dann aber werde ich erkennen, wie ich von Gott erkannt worden bin. (1. Korinther 13,12)

Wenn wir versuchen, die andere Dimension zu erfassen – den rätselhaften Bereich, in dem die Toten sind – dann sehen wir unser Spiegelbild. Wie wahr! Denn natürlich sehen und begreifen wir immer nur das, was wir halt sehen und begreifen KÖNNEN. Solange wir als Menschen auf der Erde leben, solange wir einen Körper haben, in dem ein Herz schlägt und der atmet – solange ist uns ja die andere Dimension verschlossen.

Die Ewigkeit – so nennen wir in der Kirche diese Dimension, in der die Toten sind – die Ewigkeit ist nicht einfach unendliche Zeit – so wie wir im Alltag sagen, dass etwas ewig dauert. Das ist gerade nicht gemeint, wenn wir in der Kirche von Ewigkeit sprechen. Ewigkeit ist eine Dimension, in der es die Zeit nicht gibt und den Raum auch nicht. Aber das können wir nicht denken, solange wir leben und uns in Raum und Zeit befinden. Wir können nur JETZT und HIER sein. Nicht in einer anderen Zeit und an einem anderen Ort.

Daher also sehen wir unser Spiegelbild, wenn wir versuchen, das Geheimnis zu ergründen: Wir sehen vorläufig nur ein rätselhaftes Spiegelbild. So ist es. Dann aber von Angesicht zu Angesicht. Sagt Paulus.

Ich habe vor kurzem etwas erlebt, was mir sofort diesen Bibelvers in Erinnerung rief. Anfang des Monats, an dem langen Wochenende zu Allerheiligen – an dem Wochenende war ich mit ein paar Freundinnen in der Eifel. Wir hatten ein sehr altes Fachwerkhaus gemietet. Es war schön renoviert, mit vielen freigelegten Balken.

Und so befand sich zwischen dem Bad und der Küche eine Fachwerkwand mit dicken Balken. Auf der einen Seite der Wand, im Bad, war das Waschbecken. Auf der anderen Seite, in der Küche, war der Herd. Und zwischen diesen beiden Bereichen war der seltsamste Spiegel, den ich in meinem ganzen Leben gesehen habe. Der Spiegel war in einem Viereck des Fachwerks eingelassen, und: Er war von beiden Seiten zu sehen. Im Bad war er der Badezimmerspiegel über dem Waschbecken. In der Küche war ein Spiegel über dem Herd und der Arbeitsplatte.

Das war erstmal seltsam. Ein Spiegel in der Küche? Aber gut, es war halt so. Dann stellten wir fest, dass der Spiegel auch ein bisschen durchsichtig war. Wenn man in der Küche am Herd stand und im Topf rührte – dann sah man schemenhaft einen Schatten, wenn jemand im Bad war. Und umgekehrt: Im Badezimmersiegel sah man die anderen als Umriss in der Küche hantieren oder am Tisch sitzen. Vor allem sah man Lampen und Kerzen.

Ja, und dann war ich im Bad, und die anderen waren alle in der Küche. Und als ich das Bad verließ, schaltete ich das Licht aus. Bevor ich hinausging, fiel mein Blick auf den Spiegel, und ich war total perplex: Der Spiegel war jetzt wie ein Fenster. Ich sah vom dunklen Bad aus in die helle Küche und direkt vor mir, auf der anderen Seite, stand meine Freundin und rührte gedankenverloren in einem Topf. Dann schaute sie sogar auf und sah mich quasi an – aber sie sah mich nicht. Ich ging in die Küche und erzählte, was ich entdeckt hatte.

Wir verbrachten eine ganze Weile damit, hin und her zu gehen und es auszuprobieren. Es war tatsächlich so: Wenn man in dem Raum, wo man war, das Licht ausschaltete, und wenn im anderen Raum das Licht an war – dann wurde der Spiegel zum Fenster und man konnte hindurchschauen. Und mir fiel der Vers des Paulus ein:

Wir sehen vorläufig nur ein rätselhaftes Spiegelbild, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Heute erkenne ich bruchstückhaft, dann aber werde ich erkennen, wie ich von Gott erkannt worden bin.

Im Eifelhaus muss man nur das Licht ausschalten, dann sieht man durch den seltsamen Spiegel von Angesicht zu Angesicht. Und vielleicht ist das ja so, wenn wir sterben: Dass jemand das Licht hier ausschaltet – und auf der anderen Seite einschaltet – und dann, dann sehen wir ganz klar und deutlich, was vorher nur schattenhaft zu sehen ist.

Was mir in der Eifel als Zweites einfiel: Das Gemälde von Gerhard Richter. Kerze heißt es. Ganz einfach: Kerze. 1982 hat er es gemalt, und es ist eines seiner bekanntesten Bilder. Es sieht auf den ersten Blick aus wie ein Foto. Genauer: Wie ein verwackeltes Foto. Unscharf.

Das Bild weckt in mir den Wunsch, am Objektiv zu drehen, damit es klar wird. Der Hintergrund ist nicht zu erkennen, nur Licht und Schatten kann unser Auge unterscheiden. Es gibt einen hellen und einen dunklen Bereich. Und im Vordergrund leuchtet die Kerze, aber eben unscharf. Mir geht es so: Je länger ich das Bild ansehe, umso unschärfer erscheint es mir. Trotzdem ist das Licht der Kerze klar zu erkennen.

Dieses Bild ist für mich ein Beispiel für das Nicht-Sehen-Können solange wir leben: Es ist unscharf, mehr geht nicht. Aber es ist Licht zu sehen. Es ist nicht finster. Es ist hell. Das ganze Licht werden wir sehen, wenn wir diese Welt verlassen – wenn wir sterben. Paulus sagt nach dem Satz über den Spiegel noch das Folgende:

Jetzt aber leben wir mit Vertrauen, mit Hoffnung und mit Liebe, diesen drei Geschenken. Und die größte Kraft von diesen dreien ist die Liebe. (1. Korinther 13,13)

Jetzt aber – solange wir hier auf Erden sind, solange der Spiegel schemenhaft bleibt – jetzt aber bleibt uns das schimmernde, verschwommene Licht der Ewigkeit. Deshalb vertrauen wir: Dass wir geborgen sind. Dass wir gehalten werden. Dass Gott da ist.

Dass unsere Toten es gut haben – da, wo sie jetzt sind. Deshalb hoffen wir: Dass am Ende alles klar wird. Dass am Ende alles gut wird. Deshalb lieben wir: Weil es am Ende nur auf die Liebe ankommt. Weil die Liebe das Beste ist, was wir Menschen zu geben haben. Auch wenn die Liebe wehtut. Denn wir trauern und leiden ja nur deshalb, weil wir lieben.

Würden wir niemand lieben, nie jemand in unser Herz lassen – dann müssten wir nicht trauern. Die Trauer ist quasi der Preis für die Liebe. Und trotzdem sagen die meisten Menschen, dass die Liebe in ihrem Leben das Schönste ist. Und trotzdem antworten die meisten Trauernden auf die Frage, was bleibt nach dem Tod: Die Liebe.

Es lohnt sich also, das Risiko einzugehen. Es lohnt sich zu lieben. Auch wenn wir wissen, dass die geliebten Menschen und auch wir selbst eines Tages gehen müssen. Das ist sozusagen eingepreist. Wir gehen das Risiko ein, wir verschenken unser Herz. Und es ist schön. Auch, wenn wir wissen: Es ist nicht für immer.

Die verschwommene Kerze leuchtet, wie in einem beschlagenen Spiegel. Wir können nichts erkennen, aber es ist hell. Am Ende gehen wir ins Licht – und die Toten gehen uns voraus in dieses Licht.

Und vielleicht ist es so wie im Eifelhaus: Die Welten sind gar nicht so weit auseinander, wie es uns manchmal scheint. Vielleicht sind es wirklich nur zwei Seiten eines geheimnisvollen Spiegels, und die beiden Welten der Lebenden und der Toten liegen ganz nah beieinander.

Elisabeth Müller

3 Gedanken zu „Wo sind unsere Toten?

  1. Jesus Christus antwortet den jüdischen Sadduzäern:Gott ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebenden (vgl.Mt 13,24 ff).Wir Lebenden und unsere Toten gehören zu-sammen. Alle Heimgerufenen leben in ihm wie wir, wenn wir denn glauben.
    Danke, wie Du uns das verkündigst, liebe Elisabeth. Herzlich Dein Eckhard aus Heisingen.

  2. Sehr spannend, liebe Elisabeth, sind deine Überlegungen, Erfahrungen.
    Du versuchst etwas zu erklären, was nur schwer zu erklären ist. Schön finde ich den Gedanken, dass die Toten und die Lebenden ganz nah beieinander sind, so wie im Spiegel im Eifelhaus.
    Was machst du mit der Auferstehung? Ich muss sagen, dass ich damit viel weniger anfangen kann als mit deinen Gedanken.
    Gruß Achim.

    • Lieber Achim,
      das geht mir auch so: Mit dem klassischen Begriff von Auferstehung kann ich nichts anfangen. Ich glaube, der Fehler entstand, als „Auferstehung“ von ihrem Kontext entkoppelt wurde. Wenn wir „Auferstehung“ ontologisch (also als grundsätzlich das Sein betreffend) deuten wollen, wird es immer seltsam – so, als könnten da Leute nicht damit leben, dass sie sterben werden.
      Aber „Auferstehung“ unter dem Begriff „Gerechtigkeit“ gesehen, ist etwas ganz anderes. Jesus ist ja nicht 92jährig in einem Klinikbett gestorben. Er war ein junger Mann und wurde gefoltert, misshandelt und grausam hingerichtet. Diese Art von Tod ist nicht hinnehmbar. DIESER Tod soll nicht mehr sein. Wo immer es ähnliche Zustände gibt in der Welt, entsteht sofort ein Link. „Jesus wurde gelyncht“, sagten die schwarzen Prediger in den 1960er Jahren. So muss man das meiner Meinung nach übersetzen, was die Bibel mit Auferstehung meint.
      Mir persönlich geht es so: Ich habe in meinem Leben viele Menschen verloren, die ich liebte – von meiner Kindheit an. Ich bin, ohne es zu wollen, zu einer Expertin in Sachen Tod und Trauer geworden. Einfach, weil es mir so oft passiert ist. Ich habe das Gefühl, es wurde mir aufgezwungen und verstehe nicht so richtig, warum. Aber die Warum-Fragen bringen bekanntlich nichts.
      Es ist hart. Ich vermisse sie, meine Toten. Aber sie sind auch da und umgeben mich.
      Manchmal höre ich das wunderbare Lachen meiner Freundin Meike, und ihre Augen blitzen mich an. Wenn ich traurig bin, dass mein Bruder nicht erlebt, was für eine tolle Frau seine Tochter ist und dass sie sich nicht einmal mehr an ihn erinnert – dann grinst er mich auf seine unnachahmliche Weise an, zwinkert mir zu und sagt: „Mach dir keinen Kopp. Es ist okay.“
      Meine geliebte Tante flüstert mir die Kosenamen ins Ohr, mit denen sie mich rief, als ich ein Kind war. Die alten Tanten, auf deren Schoß ich als Kind so gerne saß, loben mich, wenn ich etwas gut mache.
      Meine jüngere Kusine, die Hebamme war, freut sich über das, was ich für Frauen tue. Mein Freund Michael strahlt mich an und ich spüre die alte Nähe.
      Als ich im vergangenen Jahr so lange krank war, hörte ich öfter die energische Stimme meiner Freundin Uta: „Und DU wirst jetzt gesund!“ Sie selbst ist zwei Jahre vorher an Krebs gestorben.
      Ich habe dazu keine Theorie. Der Spiegel im Eifelhaus ist eine Metapher.
      Aber wenn ich Abendmahl feiere, dann sind sie manchmal alle da und sitzen mit am Tisch.
      Iris Müller-Friege hat neulich, bei ihrer Verabschiedung gesagt, dass es eine Frage gibt, die sie immer beschäftigt hat: Ist Blut dicker als Wasser?
      Ihre Antwort: Manchmal ja, manchmal nein. Aber das Blut Jesu ist auf jeden Fall dicker als Wasser, sagte sie. Das kann ich bestätigen.

      Liebe Grüße, Elisabeth

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