Unsere dritte Ortsbegehung beginnt mit einem Zeitsprung in den Mai 1943. Da, wo Sie jetzt sitzen, und wir heute Abend „Reformation“ feiern, brannten lichterloh Kirchenbänke und Empore. Nach einem Bombenangriff auf die Essener Innenstadt blieb von der Kreuzeskirche nur ein Torso und Gerippe übrig. Die Bomben fielen nicht überraschend und aus heiterem Himmel. Essen, die Kruppstadt, erntete, was sie gesät hatte: Hass und Vergeltung.
Zweieinhalb Jahre zuvor flog die deutsche Luftwaffe einen Angriff auf die englische Stadt Coventry. Allein in der Bombennacht im November 1940 kamen 600 Menschen zu Tode; die Innenstadt und mit ihr die mittelalterliche Kathedrale St. Michaels – von ihren Bewohner*innen die Seele der Stadt genannt – wurden weithin zerstört.
„Horror beyond words“ beschrieben die Angegriffenen diese Nacht. In der deutschen Luftwaffe firmierte diese Attacke unter dem Namen „Mondscheinsonate“.
Wie wird aus Hass Versöhnung, aus Zerstörung Gemeinschaft? Diese Fragen trieben zwei englische Pfarrer an, noch während sie in den qualmenden Ruinen ihrer Kathedrale und Stadt stehen: Dompropst Richard Howard und Reverend Arthur Wales.
Letzterer schuf ein Kreuz aus drei großen, mittelalterlichen Nägeln, die er unter den Trümmern der Dachkonstruktion der Kathedrale gefunden hatte. Ein solches Nagelkreuz ist seither zum Symbol von Coventrys internationaler Versöhnungsarbeit geworden. Seit dem Sommer 2007 ist Evangelisch Essen durch die Gemeinde Essen-Altstadt Teil dieser weltweiten Versöhnungsarbeit und dieses Nagelkreuz hier beheimatet. An jedem zweiten Sonntag ist die Versöhnungslitanei von Coventry Teil unserer Gottesdienste vor Ort.
Zeitsprung ins Jahr 2023: im Bereich der Essener Innenstadt leben Menschen aus 18 Nationen. Nicht nur aus diesem Milieu beziehen mehr als ein Drittel Sozialleistungen um ihren Alltag menschenwürdig gestalten zu können.
Wie geht Versöhnung, wie entsteht Gemeinsinn – gerade in einem solchen Quartier der Verschiedenen, der Bedürftigen? Was sollten wir im Blick behalten? Welche Geschichten lassen sich erzählen, damit Konfliktpotential nicht eskaliert und nicht ganze Straßenzüge im Herzen dieser Stadt als sog „no-go-areas“ verschrien sind?
Mit diesen Fragen im Sinn haben sich Menschen aus dem Nordquartier im vergangenen Sommer daran gemacht, eine neue Geschichte über das Viertel zu schreiben. Die Überschrift: „Initiative neue Fachgeschäfte in der Nordstadt“.
Einzelhändler*innen, Gastronomen, Eigentümer von Wohn- und Geschäftsräumen, Vertreter*innen aus der sozialen Arbeit, der Kultur und den Kirchen waren gefragt, welcherart „Fachgeschäft“ sie denn vorhielten. Ergo „Fachgeschäfte“ nicht nur für Produkte und handfeste Dinge, sondern auch für das daneben und sonst Lebens-wichtige. So kam Citykirchen-Pfarrer Jan Vicari auf die feine Idee, die Marktkirche ein „Fachgeschäft für Unterbrechung“ zu nennen.
Und die Kreuzeskirche? Die haben wir aus gutem Grund zu einem Fachgeschäft für Versöhnung gemacht. Und bleiben damit den eingangs gestellten Fragen in der Essener Innenstadt auf der Spur: Wie geht Versöhnung, wie entsteht Gemeinsinn?
Ein letzter Zeitsprung: diesmal nicht für Sie, sondern für jenen Augustinermönch, der vor gut 500 Jahren sein Gottesverhältnis in der Kirche nicht mehr gut aufgehoben fand und dessentwegen wir den Reformationstag geiern.
Ich habe mich mit ihm verabredet und lade ihn ein zu einem Spaziergang durchs Viertel, wie auch ich zu meinem Dienstantritt in Essens Mitte im Frühjahr 2023 zu einem solchen Spaziergang eingeladen worden bin. Und auch ihm gebe ich jene Frage mit: Martin, was versöhnt? Seine mögliche Antwort, mit drei Worten nur: Was Christum treibet. So hat er es in seiner weitgehend homogenen spätmittelalterlich-christlichen Umgebung auf eine kurze Formel gebracht.
Gespannt bin ich, ob er nach dem Rundgang durch die Essener Innenstadt bei dieser Essenz geblieben wäre und hätte ihm von unserer Jahresfährte Evangelisch Essen 2024 erzählt. Auch drei Worte: Die Seele zählt.
Fünf „Pinselstriche“ zur Seele aus biblischer Sicht:
Meine Seele – Zeichen dafür, dass ich zum Leben brauche, was ich mir selbst nicht geben kann.
Meine Seele – Erinnerung daran, wie zerbrechlich ich und andere sind.
Meine Seele – Unruhe in mir, damit ich das Sehnen und Suchen nicht lasse.
Meine Seele – Ort meiner Trauer und Ort des geschenkten Trostes.
Meine Seele – Schnittstelle der Verbundenheit mit dem Geheimnis des Lebens. Manchmal nenne ich es GOTT; wie nennen es andere?
Eine Ortsbegehung zur Seele bringt die beseelten Menschen in Kontakt und Austausch. Kennen Sie einen Menschen ohne Seele? Ich nicht! Jede und jeder hat zu diesem Ort und diesem Bild in sich, zu dieser Unruhe und Sehnsucht eine unverwechselbare Geschichte zu erzählen; gleich welcher Herkunft und Weltanschauung, gleich welcher Selbstdefinition oder Zuschreibung. Lasst uns sie einander erzählen und die Ohren spitzen.
Ich bringe Martin noch zum Hauptbahnhof auf dem Weg zurück nach Thüringen und Sachsen-Anhalt. „Essen, die Folkwangstadt“ verabschiedet sich an prominenter Stelle, wie es vor Jahren „die Einkaufsstadt“ getan hat. Noch suchen wir nach einer neuen Überschrift für das Herz dieser Stadt zwischen Proust, Primark und dem Platz am Limbecker.
Vielleicht sollte es in Zukunft nichts Statisches sein, das heute noch gilt und morgen schon nicht mehr. Für die einen macht jene Überschrift Sinn, für andere ist dieselbe Unsinn. Vielleicht sollte es eher ein Videoscreen sein, mit der Einladung, immer wieder einmal einen neuen Gedanken einzuspielen. Kreativ genug sind die so unterschiedlichen Einwohner*innen dieser Stadt aus mehr als 18 Nationen allemal. Mein Vorschlag für 2025: „Essen versöhnt!“
Das Gespräch darüber, was wir meinen und machen, wenn wir behaupten, die Seele zählt, könnte ein Baustein dazu sein.
Ulf Steidel
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Diese „Ortsbegehung“ ist der letzte von drei Predigtimpulsen aus dem zentralen Reformationsgottesdienst „Beherzt und beseelt“, den der Kirchenkreis Essen am 31. Oktober 2024 in der Kreuzeskirche gefeiert hat. Außerdem sind in unserem Blog Ortsbegehung I („Unsere Studierendengemeinde“, von Vera von der Osten Sacken) und Ortsbegehung II („Im Krankenhaus“, von Uwe Matysik) erschienen.