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Verleih uns Frieden!

Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott, zu unsern Zeiten. Es ist doch ja kein andrer nicht, der für uns könnte streiten, denn du, unser Gott, alleine. (EG 421, Strophe 1)

Liebe Gemeinde, schauen Sie mal auf die Liedertafel: Zuunterst steht die Nummer 421. Die Liedstrophe von Martin Luther: Verleih uns Frieden. Die singen wir heute wieder zum Ausgang. Wie beim letzten Mal, als ich hier gepredigt habe, und wie so oft in den Jahren, als ich hier Pfarrer war. Manche haben damals schon geäppelt: „Wenn wir sonntags in die Kirche kommen und da steht die 421, dann wissen wir, heute ist der Oblau wieder dran.“ Heute wollen wir die Strophe nicht nur zum Ausgang singen. Für heute fand ich es an der Zeit, auch einmal darüber zu predigen. Deshalb bitte ich Sie, die Nummer 421 im Gesangbuch jetzt schon einmal aufzuschlagen.

Übrigens hat Felix Mendelssohn-Bartholdy über dieses Lutherlied eine wunderbare Choralkantate geschrieben. Die wird am 20. März hier in der Kirche in Rellinghausen zur Aufführung kommen, im Rahmen eines Benefizkonzerts für die Ukraine, veranstaltet von unserer Gemeinde. Meine Predigt verstehe ich auch als eine Vorab-Einstimmung auf dieses Ereignis.

Das Lied ist ein Gebet: Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott, zu unsern Zeiten. Es ist doch ja kein andrer nicht, der für uns könnte streiten, denn du, unser Gott, alleine.

Wieso eigentlich „uns“?

Verleih uns Frieden? Ich meine, wir hatten doch immer Frieden, hier in Deutschland, über 70 Jahre am Stück, und genau genommen auch heute. Warum Gott um etwas bitten, das er uns längst geschenkt hat?

Vielleicht, weil die Erinnerungen an den letzten Krieg noch wach sind. Und weil der Frieden immer gefährdet ist. Krisen hat es ja genug gegeben: Berlinblockade, Kubakrise, Mittelstreckenraketen, und selten war es so krass wie heute.

Verleih uns Frieden: Ja, man kann das sozusagen prophylaktisch singen. Wir singen an gegen die Kriegsangst, und die Ältesten unter uns vielleicht auch gegen manch böse Kriegserinnerung. Das ist ein guter Grund: Singen macht das Herz frei, Beten entlastet.

Und dann, denke ich, gibt es noch einen zweiten Grund. Irgendwo ist ja immer Krieg in der Welt. Wenn nicht in Europa, dann in Syrien oder in Afghanistan oder im Kongo. Und wir singen dann nicht: Verleih Frieden den Syrern, den Afghanen. Wir singen: Verleih uns Frieden.

Das hat einen tiefen geistlichen Sinn. Durch dieses „uns“ kommt eine Verbindung zustande: zwischen uns hier in Essen und den Menschen dort im Kriegsgebiet. Indem wir so singen, wächst unser Bewusstsein, wir bekommen ein größeres Selbst. Unsere Herzen weiten sich zur Ukraine hin und bis nach Russland hinein. Wir schließen die russischen Mütter in die Arme, die um ihre gefallenen Söhne weinen. Wir nehmen die ukrainischen Frauen in unsere Mitte, die an der Grenze im Stau stehen, mit ihren Kindern und einem schnell gepackten Koffer, und nicht wissen, wie es weitergeht.

Verleih uns Frieden: So wachsen wir als Gemeinde über uns hinaus, bilden vor Gott  ein gemeinsames Wir. Lassen Sie uns die Liedstrophe jetzt gemeinsam singen.

Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott, zu unsern Zeiten.
Es ist doch ja kein andrer nicht, der für uns könnte streiten, denn du, unser Gott, alleine.

 Wieso eigentlich „streiten“?

Liebe Gemeinde: ein Gott, der für uns „streitet“? Für manche klingt das schwierig. Hat der liebe Gott denn Streit, ist er ein Kämpfer?

Für Martin Luther jedenfalls war das Leben kein Bullerbü, es war voller Konflikte, und wie oft hat er sich ohnmächtig und bedrängt gefühlt!

Als er 1521 auf dem Reichstag zu Worms erscheinen musste, da wusste er: Schon einmal war ein Reformator verbrannt worden, gut 100 Jahre zuvor, auf dem Konzil von Konstanz. Luther wurde nicht verbrannt, aber er wurde aus der Kirche exkommuniziert und vom Kaiser für vogelfrei erklärt. Jeder hätte ihn straflos umbringen können. Und bis zu seinem Tod war der Bestand einer evangelischen Kirche noch lange nicht gesichert.

Mit seinem Lied hat Luther sich zuallererst selbst Mut zugesungen: Gott wird für uns streiten. Gegen Papst und Kaiser und alle Mächte des Bösen. Was für ein Trost!

Es war im Jahr 1529, dass Luther dieses Lied getextet und komponiert hat. Das war das Jahr, in dem die Türken vor Wien standen. „Türken“, das war damals die Generalbezeichnung für alle Muslime und für das Osmanische Reich. Das war jung und auf Expansionskurs. 1529 war es bis an die Adria vorgerückt. Der gesamte Balkan war bereits erobert. Wäre Rom als nächstes dran? Und von Wien aus ganz Deutschland?

Papst und Kaiser rüsteten auf. Schlachten wurden geschlagen, Tausende starben. Und was tat Luther? Singend wandte er sich an Gott. An Gott „den HERRN“, wie er in der Bibel heißt. An den Gott, von dem die Propheten sagen: Es soll nicht durch Heer oder Kraft geschehen, sondern durch meinen Geist, spricht der HERR Zebaoth (Sacharja Kap. 4 Vers 6).

Geist gegen Macht

Durch Gottes Geist! Nicht durchs Schwert, sondern durchs Wort! Nicht durch Zwang, sondern durch die Gewinnung der Herzen. Und so schrieb Luther im Krisenjahr 1529 nicht nur dieses Lied, sondern auch den Kleinen Katechismus. Unterrichten, den Glauben stärken damit Gott selbst den Freiraum gewinnt, den Streit zu führen.

War das naiv? War das fromm ergebene Passivität? Nein, gerade mit diesem Gottvertrauen hat Martin Luther wie kaum ein anderer die Welt verändert.

Aber was ist das für ein Streit, den Gott für uns führt? Es ist Gottes Parteinahme für die Entrechteten, für die Schwachen, für alle, die ihre Menschlichkeit noch nicht verloren haben. Die Bibel ist voll von solchen Erzählungen, und der Klassiker, Sie kennen ihn, ist die Geschichte von David und Goliath.

David gegen Goliath

Der Hirtenjunge gegen den schwerbewaffneten Hünen. Dieser Philister, der vor Eisen starrte und gepanzert war wie ein griechischer Hoplit. Goliath konnte kaum laufen in seiner schweren Rüstung und er trug eine ziemlich unhandliche Lanze, so dick wie ein Weberbaum. Eine ganze Armee so auszurüsten war teuer, das kostete bestimmt, na sagen wir: 100 Milliarden.

Goliath war sich seiner Sache sicher, er verhöhnte David, und Davids Gott gleich mit. Plumpe Propaganda und Einschüchterung waren schon der halbe Sieg dachte er. David trug nur seine Zwille und eine Tasche mit fünf glatten Steinen.

Sie wissen wie die Geschichte ausgeht. Der Kleine überwindet den Großen, Schwäche schlägt Stärke, der Aggressor und Machtmensch beißt ins Gras. Die meisten kennen die Story noch aus dem Kindergottesdienst, aber Sie müssen die mal direkt in der Bibel nachlesen, in 1. Samuel 17. Sie werden merken, wie witzig die erzählt wird, als wäre sie von einem Komiker geschrieben worden. Es ist eine Persiflage auf den Krieg und seine machtprotzigen Rituale. Und genau das ist der Spirit von diesem Herrn und Gott, den Luther besingt.

Kyrill, der Patriarch der Russisch-Orthodoxen Kirche, der sollte mal mit seinem Duzfreund Wladimir Putin solche Sachen in der Bibel lesen. Es wäre höchste Zeit.

Der hochgerüstete Goliath unterliegt. Ich lese das als Gleichnis auf die Großmächte unserer Zeit. Sie sind gefesselt in ihrer atomaren Bewaffnung und können sich kaum bewegen. Fehlinvestiertes Geld. Das haben wir in der Friedensbewegung vor 40 Jahren schon rauf- und runterdekliniert.

Fachleute haben schon immer gewarnt: Wenn irgendwann einmal ein verrückter Diktator am roten Knopf zu sitzen kommt, egal ob in Washington oder in Moskau, dann gnade uns Gott! Ja, lieber Gott: Verleih uns Frieden – gnädiglich!

Es ist doch ja kein andrer nicht…

Die atomwaffenbestückte NATO jedenfalls ist gelähmt, ihr Einsatz wäre zu riskant. Sie ist es nicht, die für uns könnte streiten.

Stattdessen wollen wir nun den Aggressor mit wirtschaftlichen Sanktionen in die Knie zwingen. Das klingt ja erstmal ganz zivil, geradezu friedlich. Aber Vorsicht! Sanktionen sind schwer berechenbar. Auch sie können zu Vernichtungswaffen werden.

Ganz Europa jammert ja derzeit über die steigenden Energiepreise. Aber haben Sie schon von den steigenden Brotpreisen in den arabischen Ländern gehört? Russland und die Ukraine sind nämlich weltweit die größten Weizenexportländer. Die Ukraine war immer schon die Kornkammer Europas, deshalb wollte Hitler sie ja haben.

Ägypten mit seinen 105 Millionen Einwohnern bezieht aus Russland und der Ukraine den größten Teil seines Weizens. In ganz Nordafrika und im Nahen Osten verdorrt das Getreide auf dem Halm, auch in Ägypten, seit vielen Jahren schon: Dürrekatastrophe, Klimawandel.

Über 30 Millionen Ägypter leben unter der Armutsgrenze von 1,50 US$ pro Tag, und Brot ist ihr Grundnahrungsmittel. Und wenn jetzt die Ukraine kaputt geht und Russland am Export gehindert wird? Schon über die letzten vier Monate hin ist der Brotpreis in Ägypten um 50 Prozent gestiegen. Auch wenn die Regierung das teilweise durch subventionierte Preise aufzufangen versucht, so können Sie doch ahnen, liebe Gemeinde, was diese Entwicklung für die Mütter am Ladentresen beim Bäcker bedeutet.

Hungersnöte sind nicht weniger schlimm als der nukleare Fall-out eines Atomkrieges. Und deshalb: Vorsicht mit Wirtschaftssanktionen! – Es ist doch ja kein andrer nicht, der für uns könnte streiten. Die Macht der Ökonomie jedenfalls ist schwer zu handhaben.

Aber jetzt haben wir ja die neueste Wunderwaffe: hundert Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr. Zack und Wumms! Die jüngste Finanzbazooka unseres Kanzlers. Die hat er tapfer präsentiert am letzten Sonntag. Und als Mittel der psychologischen Kriegsführung wollen wir sie gelten lassen.

Aber bei Licht besehen ist auch sie nur ein stumpfes Schwert. Deutschland ist weltweit schon jetzt das Land mit dem siebtgrößten Wehretat. Und da schießen unsere Gewehre daneben und den Panzern fallen die Ketten ab? Was für eine Posse! Irgendwie macht es unser Land schon wieder sympathisch, finden Sie nicht?

Jedenfalls, wenn all das viele Geld bisher nichts genützt hat, ja liebe Zeit, dann wird noch mehr Geld auch nicht helfen. Auch Deutschland ist irgendwie ein Riese Goliath. Hoch gerüstet, teuer eingekauft, und dann kommt einer mit einer Zwille und zack, liegen wir auf dem Rücken.

Nein, es ist schon wahr, was wir singen: Es ist doch ja kein andrer nicht, der für uns könnte streiten, denn du unser Gott alleine.

Singen – einzige Chance

Eins ist dabei klar: Wenn wir das Lied jetzt singen, dann beten wir für ein Wunder. Wir beten darum, dass sich steinerne Herzen verwandeln in Zärtlichkeit. Dass schlechte Absichten zu Taten der Barmherzigkeit werden. Dass alle eingesetzten Soldaten in Sicherheit gebracht werden. Und dass die ganze Welt in Staunen versetzt wird.

Ja, es ist Wahnsinn, dieses Lied jetzt zu singen. Und doch, wir Christen müssen das jetzt tun, stellvertretend für die ganze Welt. Gott hat uns ja dazu bestimmt, dass unser ganzes Leben ein Friedenslied sei. Jede Geste der Menschlichkeit, und sei sie noch so klein, wird Gott aufnehmen in seine große Sinfonie des Weltfriedens. Nichts von dem, was wir in diesen Tagen tun und beten und singen für den Frieden, wird vergeblich sein. Nicht weil wir so klug und mächtig wären, sondern weil Gott so freundlich ist. Das  jedenfalls ist unsere einzige Chance.

Also singen wir es jetzt noch einmal, dieses Gebet von Martin Luther!

Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott, zu unsern Zeiten.
Es ist doch ja kein andrer nicht, der für uns könnte streiten, denn du, unser Gott, alleine.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserm Herrn! Amen.

Gotthard Oblau

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Diese Predigt über das Lied „Verleih uns Frieden“ aus dem Evangelischen Gesangbuch hielt Pfarrer Dr. Gotthard Oblau am 6. März 2022 in der Evangelischen Kirche Rellinghausen anlässlich des Krieges zwischen Russland und der Ukraine.

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