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Luther (1524) und Bach (1724)

Es war ein wunderlicher Krieg, da Tod und Leben ´rungen; das Leben behielt den Sieg, es hat den Tod verschlungen… (Martin Luther: Christ lag in Todebanden, EG 101, Strophe 4)

Bachs gesamtes Schaffen ruht auf dem Fundament der Reformation. Ohne Luther ist Bach nicht vorstellbar. Bachs Kirchenmusik basiert ganz entscheidend auf dem evangelischen Choral Luthers. Dieser ist einer der wesentlichsten Schöpfungen des Reformators und die Jahre 1523 und 1524 – so kann man in unserem Evangelischen Gesangbuch, auf Seite 1567, lesen und dann mit Mühe und Freude die Lieder aufschlagen – sind die kreativsten Jahre seiner Liedschöpfungen.

Aber nicht nur das Material nahm Bach aus dem Erbe der Reformation, sondern er verarbeitete und gestaltete es in ihrem Geiste. Wenn Luthers Worte und die Worte der Lutherbibel und Bachs Töne sich zu einer Einheit verbinden, dann erfährt man den Reichtum und die Größe Luthers und Bachs.

Genau 200 Jahre später, am 9. April 1724, dem zweiten Jahr von Johann Sebastian Bachs Wirksamkeit in Leipzig, erklang am Ostertag eine Kantate in der Thomaskirche, die das wichtigste der liturgisch vorgeschriebenen Festlieder vertonte – der von Martin Luther 1524 getextete und komponierte Choral:

„Christ lag in Todesbanden…“ (EG 101)

Diese Kantate nimmt unter allen Kantaten Bachs in jeder Hinsicht eine Sonderstellung ein. Aus diesem Grunde habe ich mir auch erlaubt, in der jetzigen Passions- und Osterzeit unseren Blick auf sie zu lenken. Es ist nur ein einziges Vokalwerk Bachs erhalten, das vom ersten bis zum letzten Satz ausschließlich auf Luther-Worten aufbaut. Oft ist der Hinweis auf die merkwürdige Tatsache zu lesen, dass Luther kein einziges Passionslied gedichtet hat, obwohl das Kreuz und die Kreuzestheologie bei ihm fraglos im Mittelpunkt stehen. Wieviel herrliche Weihnachts- Oster- und Pfingstlieder er gedichtet hat, konnten wir, wenn wir das nicht schon wussten, beim Nachschlagen im EG feststellen (s. meinen Hinweis oben).

Die Auflösung des Rätsels vom Fehlen eines Passionsliedes liegt zum großen Teil in unserem Lied. Hier sind Tod und Auferstehung, Passion und Ostern in einander „verschlungen“. Strophe 4: „Es war ein wunderlicher Krieg, da Tod und Leben ´rungen; das Leben behielt den Sieg, es hat den Tod verschlungen…“. Der Auferstandene ist das Osterlamm, d.h. zugleich das „Lamm Gottes, unschuldig am Stamm des Kreuzes geschlachtet“ oder, wie unser Lied in der alten Textform grausig-großartig sagt, „hoch an des Kreuzes Stamm in heißer Lieb gebraten“. Geglättet sagt unser Gesangbuch heute: „an des Kreuzes Stamm in heißer Lieb gegeben.“

Wenn ich nun im Folgenden mich der Kantate im Einzelnen zuwende, bitte ich den geneigten Leser, YouTube anzuklicken und dort diese Kantate aufzurufen. Sie ist dort in vielen, schönen, sehr verschiedenen Interpretationen zu hören.

Der Sieg des Lebens wird im Lied triumphal gefeiert. Es ist ein Sieg des Lebens in einem unvorstellbaren Kampf mit dem Tod. Diese Stimmung macht den tiefernsten Ton des ganzen Liedes aus. Die ergreifende Strenge seiner Melodie hat Martin Luther entsprechend 1524 komponiert. Bach hat beidem in wirklich kongenialer Weise entsprochen.

Bei allem Reichtum der Kirche an Meistern der Töne bleibt Bach der gewaltigste unter ihnen, und niemand hat in demselben Maße das Erbe Luthers angetreten wie er. Wir wollen darauf im Blick auf „unsere Kantate“ aufmerksam machen in der gebotenen Kürze.

Nach einer Einleitungs-Sinfonia, in der die erste Choralzeile sich allmählich aufbaut, folgen die sieben Strophen des Liedes. In welcher Melodie? Luther hat als Mönch viel Gregorianik gesungen. Wer diese etwas kennt, der erspürt dies in seiner von ihm komponierten Melodie. Aus unserem Gesangbuch lernen wir, dass Luther die Melodie der Oster-Sequenz: „Victimae paschali laudes…etwa: „Lob für das Osterlamm…“ nachempfunden haben dürfte. Diese stammt von Wipo von Burgund aus der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts und hängt auch mit dem ältesten deutschen Osterlied in unserm EG, Nr.99: “Christ ist erstanden von der Marter alle…“, zusammen.

Die erste Strophe: „Christ lag in Todesbanden, für unsere Sünd gegeben, der ist wieder erstanden und hat uns bracht das Leben. Des wir sollen fröhlich sein, Gott loben und ihm dankbar sein und singen Halleluja. Halleluja.“ ist ein Satz für vier Singstimmen. Der Sopran ist die führende Melodie, der cantus firmus. Unterstützt werden die Sänger von vier Bläsern und vier Streichern. Der „Knalleffekt“ ist am Ende das Halleluja (= Lobt Jahwe). Es hat 27 Takte und ist ein fast nicht endender Jubel. In der Fasten-Passionszeit durfte ja kein Halleluja gesungen werden. Man hat nicht ganz zu Unrecht an das mittelalterliche Ostergelächter erinnert, mit dem der geschlagene Teufel verhöhnt werden sollte.

Die zweite Strophe: „Den Tod niemand zwingen konnt bei allen Menschenkindern; das macht alles unsre Sünd, kein Unschuld war zu finden. Davon kam der Tod sobald und nahm über uns Gewalt, hielt uns in seim Reich gefangen. Halleluja.“ – „Halleluja“ wird wie in allen folgenden anderen Strophen nur einmal gesungen. Die erste Strophe ist die „Auferstehungs-Hoffnungs-Strophe schlechthin, deshalb dort zweimal. Die zweite ist düster-schwermütig. Der Tod ist der Sünde Sold (vgl. Paulus, Römer 6,23). Sie wird im Duett von Sopran und Alt gesungen, von zwei Bläsern und der Orgel begleitet.

Die dritte Strophe: „Jesus Christus, Gottes Sohn, an unsrer Statt ist kommen und hat die Sünd abgetan, damit dem Tod genommen all sein Recht und Gewalt; da bleibt nichts denn Tods Gestalt, den Stachel hat er verloren. Halleluja.“ Die Violinen begleiten einstimmig den Gesang des Tenors. Die Streicher zeigen bewegt den Kampf Christi mit dem Tode. Ich habe gelernt, dass an einer Stelle diese Bewegung unterbrochen wird. Im Takt 27 bei den Worten: „da bleibt nichts denn Tods Gestalt“ führen die Violinen die musikalische Figur des Kreuzes aus. Das lässt sich hier nicht darstellen.

Die vierte Strophe: „Es war ein wunderlicher Krieg, da Tod und Leben ´rungen; das Leben behielt den Sieg, es hat den Tod verschlungen. Die Schrift verkündet das, wie ein Tod den andern fraß, ein Spott aus dem Tod ist worden, Halleluja“ – sie führt uns ins Zentrum des Chorals. Das hat uns der in Essen nicht unbekannte Journalist Heribert Prantl in seinem 2018 bei Ullstein erschienenem Buch „Der Zorn Gottes- Denkanstöße zu den Feiertagen“ vor Augen und Ohren geführt. „Es war ein wunderlicher Krieg, da Tod und Leben rungen; das Leben behielt den Sieg, es hat den Tod verschlungen.“ Er urteilt scharf: „… ein vorstellbares Osterbild ergibt sich daraus heute nicht mehr“ (Seite 96). Aber da ist er über das Ziel hinausgeschossen.

Vier Singstimmen führen den Choralsatz durch. Die melodieführende Stimme ist der  Alt. In Kanon-Bildungen wird der drastische Text ausgemalt: „Die Schrift verkündet das, wie ein Tod den andern fraß, ein Spott aus dem Tod ist worden“. Woran erinnert uns das in der Schrift?  An den Apostel Paulus in dem großen Auferstehungskapitel 1. Korinther 15. In den Versen 54c bis 57 schreibt Paulus: „Der Tod ist verschlungen in den Sieg. Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel? Der Stachel des Todes aber ist die Sünde, die Kraft aber der Sünde ist das Gesetz. Gott aber sei Dank, der uns den Sieg gibt durch unsern Herrn Jesus Christus.“

Der Sieg liegt in der Allmacht des barmherzigen Gott-Vaters, der Jesus Christus auferweckt hat von den Toten. Wenn wir das nicht glauben, sind wir die „elendsten unter allen Menschen“ (vgl. Vers 19: „Hoffen wir allein in diesem Leben auf Christus, so sind wir die elendsten unter allen Menschen“).

In der fünften Strophe: „Hier ist das recht Osterlamm, davon wir sollen leben, das ist an des Kreuzes Stamm in heißer Lieb gegeben. Das Blut zeichnet unsre Tür, das hält der Glaub dem Tod für, der Würger kann uns nicht rühren. Halleluja.“ Sie wird vom Bass gesungen von Streichern begleitet. Sie greift auf die dritte Strophe zurück. Das Blut an der Tür und der Würger beziehen sich auf die Befreiungs-Passageschichte (vgl. 2. Mose 12 – Blut an der Tür, Vers 13).

In der sechsten Strophe: „So feiern wir das hoh Fest mit Herzensfreud und Wonne, das uns der Herr scheinen lässt. Er ist selber die Sonne, der durch seiner Gnadenglanz erleucht unsre Herzen ganz; der Sünden Nacht ist vergangen. Halleluja.“ leuchtet die Osterfreude und Hoffnung hell auf (Herzensfreud und Wonne). Also kein Passionslied, sondern ein Osterlied!

Die Wende von der Hinrichtung am Kreuz und der Zerstreuung der Jünger am Karfreitag zur Auferweckung an Ostern können wir nur von der Tat Gottes, des allmächtigen Vaters, her glauben und verstehen. 1959 hat Gerhard Ebeling in Zürich Vorlesungen für Hörer aller Fakultäten gehalten, die hatten es in sich. Der Tübinger Verlag J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) veröffentlichte diese in demselben Jahr: „Das Wesen des christlichen Glaubens“. Ich zitiere daraus: „Es wird m.E. geradezu zur Existenzfrage der Christenheit, ob sie mit schlechtem Gewissen und halben Herzen das Bekenntnis zu dem auferstandenen Jesus wiederholt, oder ob sie es überzeugt und darum nicht nur fröhlich, sondern auch überzeugend tut,  weil sie sich dabei an der Quelle und am Grund des Glaubens befindet“ (S. 73).

Ich frage nur: Wie halten wir es?

In der siebten, letzten Strophe: „Wir essen und leben wohl, zum süßen Brot geladen; der alte Sau´rteig nicht soll sein bei dem Wort der Gnaden. Christus will die Kost uns sein und speisen die Seel allein; der Glaub will keins andern leben. Halleluja.“ wird im vierstimmigen Satz das Heilige Abendmahl gefeiert. Sie knüpft in der Vierstimmigkeit an die erste Strophe an. Alle Instrumente, tutti, unterstützen den vierstimmigen Chor.

Schon in den ersten zwölf Monaten seiner Leipziger Kantorats diente Johann Sebastian Bach seiner lutherischen Kirche mit Gaben, wie sie Gott keinem anderen Meister verliehen hatte; und für uns heute gilt das Wort des Reformators Martin Luther:

„Wer sich die Musik erkiest, hat ein himmlisch Werk gewonnen; denn ihr erster Ursprung ist von dem Himmel selbst genommen, weil die lieben Engelein selber Musikanten sein.“

Eckhard Schendel

3 Gedanken zu „Luther (1524) und Bach (1724)

  1. Herr Dr. Eckhard Schendel hat hier eine beachtenswerte Betrachtung geschrie-ben, die mich, einen ev. Ruhestandspfarrer, geistig und geistlich bereichert hat. Das bekannte Luther-Lied „Christ lag in Todesbanden“ ist mir lebenslang fremd geblieben.Auch wenn es das Wochenlied zu Ostern war, wurde es wegen des schweren Textes und auch der Melodiein den üblichen Gemeindegottesdiensten nur wenig gesungen, es wurde nicht „populär.“ Und nun diese Deutung in der Form der Bachkantate! Allein schon die Zeitspanne „Luther (1524) und Bach (1724)“ ist faszinierend. Ich habe sie mir nie klar gemacht. Dass Luther mit seiner Kreuzestheologie kein Passionslied gedichtet hat, ist mir nicht bewusst gewor-den. Dass das Kreuzes- und Auferstehungsgeschehen hier so dicht miteinander verwoben sind, dass sich Karfreitag und Ostern erst gar nicht mehr trennen lassen, ist eine erhellende Interpretation. Nach der Betrachtung von Herrn Dr. Schendel möchte ich dieses Gesangbuchlied Luthers von der Bach-Kantate her nicht mehr missen. Seine Ausführungen zum Text und zur Melodie sind erstaun-lich. Dass er bei der dritten Strophe in der Kantate bei Takt 27 sogar darauf ver-weist, dass die Violinen eine musikalische Form des Kreuzes ausführen, zeugt von seiner profunden Kenntnis. Es gäbe noch so viel zu benennen. Dass er schließlich den Theologen Gerhard Ebeling mit der „Existenzfrage“ zitiert, wie die Christen nun ihren Auferstehungsglauben bekennen, damit bezieht er uns selbst mit ein. Es geht um die Glaubwürdigkeit und Wirkkraft unseres persönlichen Glaubens. Herrn Dr. Schendel ist es gelungen, dem Osterfest 2020 in dieser Corona-Zeit einen besonderen Akzent zu verleihen. Dafür kann man ihm nur von Herzen danken!

    • …und wir danken Ihnen für diesen Kommentar! Wie schön, dass der Beitrag von Eckhard Schendel Ihr Osterfest – in dieser schwierigen Zeit – bereichert hat. Wir freuen uns sehr, dass wir seine profilierten Texte hier veröffentlichen dürfen. Herzliche Grüße aus Essen, Stefan Koppelmann für die Redaktion von himmelrauschen.de.

  2. Was Herr Dr. Eckhard Schendel hier geschrieben hat, ist für mich, einen evange-lischen Ruhestandpfarrer, neu und zugleich geistig und geistlich bereichernd. In einer üblichen Kirchengemeinde fiel es schwer, dieses Lutherlied „Christ lag in Todesban-den“ wegen des Textes und auch der Melodie singen zu lassen. Hier wird es einem sogar so lieb gemacht, dass man es nicht mehr missen möchte. Allein die die Verbindung der Namen und Jahreszahlen „Luther (1524) und Bach (1724)“ ist faszinierend. Und dass Luther, geprägt von seiner Kreuzestheologie kein Passionslied gedichtet hat, ist mir nicht bewusst geworden. Der Zusammen-hang von Luther-Text und Bach-Melodie wird so sachkundig dargestellt, dass man sich nur wundern kann, etwa dass im Takt 27 die Violinen die musikalische Figur des Kreuzes darstellen. Dass schließlich der Theologe Gerhard Ebeling zitiert wird, um die Deutungen dieses Liedes zur „Existenzfrage“ unseres Pas-sions-und Osterglaubens werden zu lassen, macht betroffen. Es geht nicht nur theoretisch um IHN, sondern zugleich praktisch um uns. DANKE für diese Aus-führungen gerade zum diesjährigen „passionierten“ Corona-Osterfest!

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