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Mut zum Glauben

Martin Luther und wir. Wie steht es mit dieser Relation, dieser Beziehung? Haben wir eine historische Beziehung oder eine Glaubensbeziehung zum Reformator oder beides? Das ist meine Frage an uns im Gedenkjahr „500 Jahre Worms“.

Etwa 50 Jahre nach Worms, die Zeitspanne ist vergleichbar zwischen dem berufenen Paulus und den Evangelien von Lukas und Matthäus, hält der bedeutende Lutheraner Nikolaus Selnecker (1530-1592) in der Universität Leipzig Vorlesungen zum Thema „Vom Leben und Wandel des ehrwürdigen Herrn und teuren Mannes Gottes Doctor Martini Lutheri“. In der Veröffentlichung dieser Vorlesungen aus dem Jahr 1576 schreibt er auf Seite 32f. folgendes:

„… dem Luthero ein Tag frist sich zu bedencken gegebe ward / antwortet er / So er nicht durch zeugnis der heiligen Schrifft und klare beweisung überwunden werde / so könne er nichts widerruffen von alledem/was er geschrieben und geleret habe / weil geschrieben stehet/ Wer mich verleugnen wird vor den Menschen / den wil auch ich verleugnen vor meinem Vater. Der Bapst habe offt geirret / desgleichen auch die Concilia haben sich offt selber widersprochen / Derhalben müsse man der heiligen Schrifft zeugnis haben / Darauf liess sich Eccius /der Kaiserliche Orator wider vernemen / Er Luther nicht bescheiden auff die vorgelegte Frag geantwortet /drumb solt er schlecht revocieren und widerruffen.

Darauf saget und bekennet Doctor Luther / er wolle wider sein Gewissen nichts tun und könne nicht widerruffen / er werde denn mit   Zeugnis der heiligen Schrifft überwunden.

Und unter andern redet er die deutschen wort darzu / Hie bin ich / hie stehe ich / ich kann nicht anders / Gott helfe mir / Amen.

Die Lutherforschung unserer Zeit hält die letzten Worte „Gott helfe mir. Amen.“ für die von Luther wirklich gesprochenen, die vorhergehenden nicht. Drauf weist ein Beitrag in der Frankfurter Allgemeine Zeitung FAZ vom 4. April 2021 – Autor ist der anerkannten Luther-Forscher Thomas Kaufmann aus Göttingen – neuerlich explizit hin. Wie dem auch sei. Das ist nicht entscheidend. Doch wir müssen wissen, dass Martin Luther seinen Weg nach Worms mit dem Passionsweg Christi nach Jerusalem verglichen hat.

Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) geht in der Vergegenwärtigung der Frage von Worms mit guten Schritten voran. Doch an der Vermittlung „vor Ort“ hapert es, wie schon so oft, auch wenn vieles in den öffentlichen Medien mehr vorkommen sollte. Aus diesen Gründen mein Beitrag.

Es ist ein Themenheft zum 500. Jubiläum Worms 1521-2021 veröffentlicht worden; es ist als „EKD-Text“ (PDF) auf der Seite www.ekd.de erhältlich: „Gewissen befreien. Haltung zeigen. Gott vertrauen. Luther vor dem Wormser Reichstag“.

Zum ersten Themenkomplex, „Gewissen befreien“, lässt die EKD einen der renommiertesten Luther-Forscher des 20. Jahrhunderts, Gerhard Ebeling (1912-2001), zu Worte kommen. Das hat mich persönlich am meisten erfreut. 1964 veröffentlichte Ebeling sein Buch „Luther – Einführung in sein Denken (Verlag Mohr-Siebeck, Tübingen). Daraus zitiere ich nun einen kurzen, grundlegenden Satz:

„Person meint dann die Einheit und Ganzheit des Menschen in seinem Sein vor Gott. Person in diesem Sinne ist für Luther nahezu gleichbedeutend mit Gewissen“ (Seite 230). Diese ganzheitliche Sicht des Gewissens vertrat er 1960, Jahre zuvor schon, in dem von der EKD zitierten Aufsatz: „Theologische Erwägungen über das Gewissen“ (EKD Texte, 2021, Seite 36f.). Daraus zitiere ich wörtlich aus Seite 37:

  1. „Die Besinnung auf den Gewissensbegriff soll … den Zusammenhang von Menschen, Welt und Gott erkennen lassen.“ Die EKD sagt dazu: Wie wir uns selbst, die Wirklichkeit und Gott wahrnehmen und erleben, ist nämlich immer eine Frage des Glaubens. Deshalb bündelt sich unser Sein im Gewissen. Ebeling wagt sogar die Aussage: „Gott ist ein Gewissensphänomen und der Mensch ist ein Gewissensphänomen.“
  2. „Die Besinnung auf den Gewissenbegriff soll uns dazu anleiten, das Verhältnis von Sittlichkeit und Glaube als fundamentales theologisches Problem zu bedenken.“ Die EKD sagt dazu: … beim Gewissensproblem geht es eben nicht/nur um moralisches Verhalten, sondern um die Erkenntnis, dass das Heil (und damit auch die Ethik) nicht aus dem Gesetz, sondern aus dem Evangelium entsteht. Sprich: Wer sein Heil im Glauben gefunden hat, der handelt dementsprechend auch liebevoll. Zusammenfassend formuliert Gerhard Ebeling: „Genaugenommen ‚hat‘ nicht der Mensch Gewissen, sondern er ‚ist‘ Gewissen“.

Das ist genauso, wie wir schon oben zitierten: Martin Luther. Darauf beruft er sich in Worms: „…er wolle wider sein Gewissen nichts tun…“ Das Zeugnis der Heiligen Schrift steht dem Gewissen voll zur Seite (sola scriptura = allein die Heilige Schrift). Der kurze, gute Beitrag von Joachim Lauterjung in diesem Blog – erschienen am 16. April – spricht die Gewissensfrage nicht an. Ich halte sie aber für sehr gravierend. Glauben und Gewissen hängen eng miteinander zusammen. Das wollen wir heute gar nicht mehr richtig verstehen. Doch unser couragierter Reformator weist uns ungeheuer darauf hin.

Haben wir heute einen solchen Mann? Nein!

Die wichtigste Vorlesung während meiner Studienjahre habe ich bei Gerhard Ebeling in Zürich im Wintersemester 1958/59 gehört. Sie galt Hörern aller Fakultäten und ist von Züricher Bürgern zahlreich besucht worden. Thema: „Das Wesen des christlichen Glaubens“ (Verlag Mohr-Siebeck, Tübingen 1959) – die veröffentlichten Buchausgaben sind natürlich längst vergriffen – das Zentralverzeichnis Antiquarischer Bücher (ZVAB) bietet noch Kaufmöglichkeiten.

Ebelings Glaubenseinsichten basieren auf der Heiligen Schrift und auf dem Gewissen und damit also auf den Erkenntnissen des mutigen Mönchs Martin Luther, der in Worms vor Kaiser, Reich und Papsttum, den Mächten seiner Zeit widerstanden hat.

Und wir heute? Ich halte mich an das, was ich bei Gerhard Ebeling für mein Glaubensleben gelernt habe. Daran möchte ich Sie teilnehmen lassen in der gebotenen Kürze.

Grundlage meines Glaubens ist die Heilige Trinität, das heißt Gott, der in dreifacher Weise als die Wahrheit, der Mittler und der Geber des Glaubens, als Vater, Sohn und Geist zum Glauben beruft und im Glauben erhält. Vielen fehlt der Mut, diesen Glauben zu bekennen, gerade unter uns Christen.

Die Liebe steht für meinen Glauben im Zentrum. Im Neuen Testament kommen die Worte „Liebe“ und „geliebt“ (griechisch agápe/agapetós) rund hundert Mal vor. Jesus Christus, der Mittler, ist der Gesandte der Liebe. Paulus ist der Zeuge der Liebe (1. Korinther 13). Wir werden befähigt und ermutigt Zeugen der Liebe zu sein. Das durch den Glauben ermächtigte Gewissen, also wir als Personen, werden dazu befähigt; es wird uns zugemutet und wir können es auch.

Wenn ich an die Wahrheit und den Geist denke, fällt mir sofort das Gespräch Jesu mit der Samariterin am Brunnen ein (vgl. Johannes 4, 4-24). Jesus wählt bewusst den von Juden vermiedenen, kürzeren Weg durch Samarien nach Jerusalem. Am berühmten, auf Vater Jakob zurückgehenden Brunnen kommt es zum Gespräch des Juden Jesus mit der Frau aus Samaria.

Die Samariter waren vermutlich eine Mischbevölkerung. Sie leiteten ihren Ursprung von den wenigen Juden ab, die nach der assyrischen Eroberung in Samaria geblieben waren. Sie beteten in einem Tempel, den sie auf dem Berg Garizim bei Sichem (heute Nablus) errichtet hatten. Zu Zeiten Jesu herrschten zwischen ihnen und den Juden in Jerusalem große Spannungen. Sie betrachteten die Samariter als Häretiker, Ketzer.

Jesus ist durstig in der Mittagshitze und bittet die Frau um das Wasser aus dem Brunnen, das sie gerade schöpft. Sie lehnt ab. Aber was Jesus auf ihre rauhe Abweisung antwortet, macht die Frau neugierig. Er sagt nämlich zu ihr: „Wenn du die Gabe Gottes erkenntest und wer der ist, der zu dir sagt: Gib mir zu trinken, dann bätest du ihn, und er gäbe dir lebendiges Wasser“ (Vers 10).

Die Frau erkennt: das ist kein gewöhnlicher Mann, denn er redet von Gott. Er redet geheimnisvoll. „Wer von diesem Wasser hier trinkt, den wird wieder dürsten. Wer aber von dem Wasser trinken wird, das ich ihm geben werde, den wird in Ewigkeit nicht dürsten“ (vgl. Vers 13f.). Dieses Wunderwasser möchte die Frau haben. Jesus weiß um ihre persönliche, private, schwere Situation. Sie kommt aus dem Staunen nicht heraus. Jesus eröffnet ihr eine Freiheit, von der sie bisher noch nie was vernommen hat. …das Wasser, das ich geben werde, wird im Menschen zur sprudelnden Quelle, das in das ewige Leben fließt (vgl. Vers 14).

Können wir spüren, was hier in Bewegung kommt? Doch unsere Geschichte ist noch nicht zu Ende. Die Frau, klug wie sie ist, erinnert an die Ursachen der religiösen Grenzen zwischen Samaritanern und Juden: Unsere Väter haben auf diesem Berg Garizim Gott angebetet, und ihr Juden sagt, Jerusalem sei allein die Stätte, wo Gott angebetet werden soll (vgl. Vers 20). So provoziert sie Jesus zu seinem entscheidenden Freiheitsruf. Er sagt zu ihr: … Es kommt die Zeit und ist schon jetzt, in der die wahren Anbeter den Vater, der Geist ist, anbeten im Geist und in der Wahrheit (vgl. Vers 23).

Ich schließe mein Nachdenken über Worms und unseren Mut zum Glauben mit einer für mich wichtigen, unvergesslichen Erfahrung aus der ländlichen Schweiz. Ein Bauer antwortete bei einem Wochenende auf meine Frage, was er vom Prediger erwarte, auf Schwyzer-Dütsch im Dreiklang: „E bizzli Belehrig, e bizzli Auferbauig, e bizzli Tröstig.“

Eckhard Schendel