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Befreiung. Vergebung. Frieden.

Israelsonntag. Meine spontane Reaktion ist: Ich mache im Gottesdienst einfach etwas anderes. Bloß dieses Thema nicht. Vermintes Gelände. Kann ich dazu irgendetwas sagen, ohne dass ein Shitstorm mich trifft? Woher auch immer? Aber dann: Meine Furcht vor dem Thema zeigt ja eigentlich – dass wir drüber reden müssen. Gerade WEIL es so schwierig ist.

Und ich sah ein Interview mit Joachim Gauck bei Markus Lanz. Lanz fragt ihn nach seiner Position nach Israel. Gauck holt tief Luft. Er sagt, dass es natürlich nicht geht, was Israel in Gaza macht. Er sagt aber auch: Diese Worte presse ich aus mir hervor, ich bringe es kaum über die Lippen. Man sieht, wie er körperlich damit ringt, es auszusprechen. So geht es mir auch. Ich presse es aus mir heraus: Kritik an Israel.

Als kleines Kind entdeckte ich ein Buch auf dem Nachttisch meiner Mutter. Da durfte ich eigentlich nicht hin. Das Schlafzimmer meiner Eltern war für uns Kinder tabu. Aber ich suchte etwas, und meine Mutter war nicht in der Nähe. Und so fand ich das Buch. Ich war auf jeden Fall so klein, dass ich noch nicht lesen konnte.

Das Buch zeigte in Schwarz-Weiß-Aufnahmen Bilder von Menschen, die schrecklich aussahen. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Meine Mutter kam dazu, und schimpfte mich aus. Dann aber sah sie, dass ich das Buch in den Händen hatte und wie sehr mich das, was ich darin gesehen hatte, aus der Fassung brachte. Ich fragte, was das für Menschen wären. Sie sagte: Das sind Juden. Ich hatte das Wort noch nie gehört.

Sie erklärte mir irgendwie, dass andere Menschen den Juden Böses angetan hätten. Aber ich verstand das alles nicht. Es blieb das Entsetzen, und ich habe dieses Erlebnis, ich habe das Buch in meinen Händen nie vergessen. Es hieß: Der gelbe Stern.

Jahre später, ich war vielleicht zwölf und ich wusste inzwischen, was mit den Juden passiert war. Auf einem Streifzug mit meiner Freundin durch den Wald hinter unserem Dorf entdeckten wir etwas Rätselhaftes: Mitten im Wald standen und lagen Steine, auf denen sonderbare Zeichen eingraviert waren. Wir rissen Efeu und allerlei Grünzeug ab und sahen uns die Steine genauer an. Ihre Form erinnerte an Grabsteine, aber die Zeichen konnten wir nicht deuten.

Ich erzählte abends meinem Vater davon und fragte ihn, was das wäre. Er sagte: Das ist der jüdische Friedhof. Und so traf mich mit einem Schlag die Erkenntnis: In unserem Dorf haben Juden gelebt. Für mich war das immer WOANDERS passiert. Im Fernsehen – irgendwo aber hier, bei uns, im Dorf?!

Ich löcherte meinen Vater mit Fragen und er erzählte mir von der Familie Katzenstein, die an der Hauptstraße gelebt hatte. Was ist aus ihnen geworden? fragte ich. Einige seien nach Amerika gegangen. Und die anderen? Sie wurden abgeholt. Und dann? Ich weiß es nicht, sagte mein Vater.

Ein paar Jahre später lagen bei meiner Freundin zuhause im Wohnzimmer zwei Bücher von einem gewissen Leon Uris. Das eine hieß Exodus, das andere Mila 18. Sie gehörten der Mutter meiner Freundin und wir lasen sie beide – also wir beide lasen beide Bücher. Ich sehe sie noch vor mir: Zwei dicke Taschenbücher, beide gut tausend Seiten dick.

Zuerst Exodus. Die Geschichte der Entstehung des Staates Israel.  Mein Herz entbrannte für Don, der als 13Jähriger den Aufstand im Warschauer Ghetto mitmacht und als einziger seiner Gruppe überlebt. Und für Karen, die von ihren Eltern nach Dänemark zu einer anderen Familie geschickt wird, dort den Krieg überlebt und sich in Don verliebt. Sie und viele andere sind Passagiere der „Exodus“, die von Zypern nach Palästina startet und dort von den Engländern keine Landeerlaubnis hält.

Sie kehren aber nicht um, sondern harren aus und erreichen schließlich das Ende der englischen Blockade. So machen sie den Weg frei für die überlebenden jüdischen Menschen, die nach Israel wollen. Ich erlebte in dem Buch die Gründung des Staates Israel mit und wie Don in den Kämpfen der späten 1940er Jahre als israelischer Soldat fällt. Selten habe ich so aus tiefster Seele mitgelitten und mitgefühlt. Bis heute habe ich die Details präsent, obwohl es jetzt 50 Jahre her ist, dass ich das Buch gelesen habe.

Und dann Mila 18. Eine Adresse in Warschau. Das Buch erzählt die Geschichte des Warschauer Ghettos. Wieder kommt Don vor, er ist zu Beginn des Romans noch ein Kind, und als das Ghetto schließlich von der Wehrmacht dem Boden gleich gemacht wird, ist er 13. Als ich das Buch las, war ich 14. Der Kampf um das Ghetto, der Aufstand der jüdischen Kämpfer und Kämpferinnen im Sommer 1944, umfasst fast die gesamte zweite Hälfte des Buches. Ich habe diesen Teil in einer langen Nacht in einem Zug gelesen.

Als mein Wecker klingelte, war ich gerade fertig geworden. Ich saß an dem Tag in der Schule wie ein Zombie. Zum einen, weil ich kein Auge zugetan hatte. Zum anderen wegen der Geschichte, die mich bewegte und erschütterte wie selten etwas. Eine Szene hat sich mir besonders eingebrannt: Wie ein jüdischer Kämpfer aus der Deckung kommt, auf einen Wehrmachts-Panzer zuläuft und eine Granate hineinwirft. Dann rutscht die Mütze ab, und lange, rote Haare breiten sich aus, bevor alles in die Luft fliegt. Ein Mädchen! Dieses Mädchen wäre ich gerne gewesen! Obwohl sie stirbt.  Aber es fühlte sich so, so richtig an, was sie tut.

Wieder ein paar Jahre später, ich war siebzehn. Für Schülerinnen und Schüler aus den Geschichte-Leistungskursen in Rheinland-Pfalz gab es eine Reise nach Polen.
Mein Lehrer fragte mich, ob ich das nicht machen wollte. Ich wollte. Wir besuchten Posen, Warschau und Krakau – und Auschwitz.

Es ist für mich bis heute schwer zu beschreiben, was der Besuch in Auschwitz bei mir auslöste. Es ging mir unter die Haut, in die Knochen, mitten ins Herz. Vor allem aber spürte ich: Scham, schreckliche Scham. Ich gehöre zum Land der Mörder. In Warschau suchte ich nach der Adresse Mila 18. Es gibt sie nicht mehr. Vom Ghetto ist kein Stein übriggeblieben. Es gibt nur ein Denkmal, das an den Aufstand und an das Ghetto erinnert.

Sehr viel habe ich seitdem über die Shoa, über den Krieg und über die nationalsozialistischen Verbrechen gehört und gesehen.  Aber nichts hat solche Spuren in mir hinterlassen wie diese Erlebnisse meiner Kindheit und Jugend. Die Existenz Israels ist für mich bis heute keine Frage. Ich bin wahrscheinlich in Bezug auf Israel das, was man „hochidentifiziert“ nennt.

Auf der anderen Seite gibt es – natürlich – seit Jahren den nagenden Zweifel. So lange schon sehen wir die Bilder von den jüdischen Siedlern im Westjordanland, die nichts anderes tun, als palästinensische Menschen von ihrem rechtmäßigen Besitz zu vertreiben. Ist das, was Israel tut, noch zu rechtfertigen? Kann und muss man das kritisieren? Ich finde, man kann und sollte es kritisieren – und schließlich tun das ja auch viele Israelis. Die Selbstkritik in Israel funktioniert hervorragend – und deutlich besser als in den Nachbarländern, denn Israel ist eine Demokratie. Das ist im Nahen Osten selten. Kritik an der Politik eines Landes, Kritik an der israelischen Regierung ist etwas Anderes als Antisemitismus.

Nach dem Pogrom der Hamas am 7. Oktober 2023 war ich entsetzt. Entsetzt war und bin ich aber auch über den Antisemitismus, der auf einmal explodierte. Und wie man die Hamas eine Befreiungsbewegung nennen kann, ist mir schleierhaft.

Ja, und dann kam die israelische Reaktion auf den 7. Oktober – die ich am Anfang noch nachvollziehen konnte. Es ist klar, dass Israel sich wehren muss. Aber je länger das Ganze dauert, umso schlimmer finde ich es. Und gerade die Bilder aus den letzten Wochen sind einfach nur schrecklich. Israel hat vor allem mit dem bewusst produzierten Hunger eine Grenze überschritten.

Es fällt mir sehr schwer, DAS anzuschauen und zur Kenntnis zu nehmen.
Ich halte es kaum aus, diese Bilder aus Gaza von den abgemagerten Menschen zu sehen, diese Kindergesichter – und nicht zu denken: Aber so, genau so sahen die Menschen in den Ghettos aus! Ihr wisst doch, wie das ist! Wie könnt ihr das selbst machen? Wie könnt ihr andere wie Untermenschen behandeln – wo ihr doch genau wisst, wie es IST, so behandelt zu werden?

Ja, die Hamas ist kriminell. Und ja, sie halten noch immer Geiseln gefangen, sie foltern und vergewaltigen und haben kein Problem damit, sich hinter Kindern und in Krankenhäusern zu verstecken. Das sind Kriegsverbrechen. Aber Vertreibung und Aushungern von Zivilbevölkerung auch.

Und es geht mir dabei wie Joachim Gauck: Ich presse das aus mir hervor. Dass Israelis so etwas tun, das nimmt mir den Atem. Ich frage mich: Warum tue ich mich SO schwer damit? Ich weiß doch eigentlich, dass Menschen durch die Erfahrung eigenen Leids, eigener Gewalt keine besseren Menschen werden. Und warum sollen schließlich die Juden die besseren Menschen sein? Ist das nicht auch eine Form von Antisemitismus: Genau das zu erwarten – dass die Juden besser sind als wir?

Aber es wäre so wunderbar, wenn welche von uns besser wären: jüdische Menschen – oder schwarze Menschen – oder ehemalige Sklaven – oder Frauen – oder Pfarrer – oder sonstwie Heilige. Es wäre so schön. Aber es ist nicht so. Es gibt sie nicht, die bessere Gruppe unter uns. Und vielleicht ist es achtzig Jahre nach Ende des Krieges auch ein Zeichen von Normalität, wenn jüdische Menschen auch die Regeln der Zivilisation brechen – wer weiß… Und trotzdem macht es mich fertig. Gegen jede Vernunft. Und ich presse die Worte widerwillig aus mir heraus: Israel tut Unrecht.

Ich möchte Netanjahu schütteln und seine rechtsradikalen Minister: Wie kann man die Shoah erlebt haben und so etwas tun? Ich denke an die vielen wunderbaren Worte der hebräischen Bibel. An die Prophetie des Jesaja. Zum Beispiel das Kapitel 55:

Schau, fremde Völker, die du noch nicht kennst, wirst du rufen, und fremde Völker, die dich nicht kannten, eilen zu dir, um Gottes willen, deiner Gottheit, heilig in Israel ist sie, ja, dich schmückt sie. Fragt nach Gott, solange Gott gefunden werden kann, fragt, solange Gott nahe ist.

Ja, der jüdische Glaube ist die Mutter des Christentums und eine der Quellen des Islam. Jerusalem die heilige Stadt der drei Religionen. Mit dem Judentum ist in dieser Welt etwas Einzigartiges entstanden, mit großer spiritueller Kraft, von der auch wir Christinnen und Christen leben.

Wer Übles tut, verlasse den eingeschlagenen Weg, wer Unheil wirkt, das Geplante,
und kehre
um zu Gott, so wird Gott sich liebevoll zeigen, zu unserer Gottheit, denn sie macht die Vergebung groß.

Ja, Israel, höre diese Worte! Du TUST Übles, du WIRKST Unheil! Kehr um!

Denn meine Pläne sind nicht eure Pläne und eure Wege sind nicht meine Wege, Spruch Gottes. Wie der Himmel höher ist als die Erde, so sind meine Wege höher als eure Wege und meine Pläne als eure Pläne.

Gottes Pläne sind nicht die Pläne von Vergeltung und Vernichtung – mit Sicherheit nicht. Niemand von uns kann behaupten, den Willen Gottes zu verkörpern oder zu tun:
keine Nation, keine Religion hat das gepachtet. Gottes Wege und Pläne sind nicht Menschen-Pläne und Menschen-Wege. Diese Differenz hast du, Israel, die Welt gelehrt – nun halte dich selbst daran!

Denn wie Regen und Schnee vom Himmel herabfallen und nicht dorthin zurückkehren, sondern die Erde tränken, sie fruchtbar machen und sprießen lassen, damit sie Samen gibt zum Säen und Brot zum Essen, so wird das Wort, das aus meinem Mund hervorkommt, nicht ohne Erfolg zu mir zurückkehren, sondern tun, was ich will, und ihm wird gelingen, wozu ich es gesandt habe.

Das Wort Gottes kontrollieren wir nicht. Es wirkt, wie es will. Offensichtlich und im Verborgenen. Es hat eine eigene Kraft. Es verkündet: Befreiung. Vergebung. Frieden.

Ja, ihr sollt mit Freude ausziehen und mit Frieden geleitet werden. Berge und Hügel sollen fröhlich sein, sollen mit euch jauchzen und alle Bäume des Feldes in die Hände klatschen. Anstelle von Dorngewächs soll Wacholder wachsen, anstelle von Brennnesseln Myrten. Das wird sich mit Gottes Namen verbinden zum dauerhaften Zeichen, das nicht abgehauen werden kann.

Am Ende steht die Freude über: Befreiung. Vergebung. Frieden. Denn das ist das Ziel: Befreiung. Vergebung. Frieden. Für alle. Das hast du, Israel, uns gelehrt. Befreiung. Vergebung. Frieden. Schalom!

Elisabeth Müller

Ein Gedanke zu „Befreiung. Vergebung. Frieden.

  1. Danke, Elisabeth, für diese mutigen Worte, die aus der Erstarrung lösen können.
    Wir wollen gerne der evang. Kirche diese Sicht weitergeben, vielleicht mit einer gemeinsamen Aktion in der Innenstadt (Mrktkirche??).
    Wenn du Reaktionen bekommst, die dich ermutigen, dann lass es mich bitte wissen.
    Achim Gerhard-Kemper

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