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Das Wort vom Kreuz

Gott, sammle du meine Tränen in deinen Krug. (Psalm 56,9)

Am Sterben Jesu gibt es nichts schönzureden. Es war ein grausames Sterben, auch wenn Hinrichtungen zur Zeit Jesu so üblich waren.

Schönzureden gibt es dabei nichts. Weil jede und jeder von uns ahnt, dass die Erfahrung des Endes, das damals gewesen ist, genau die Erfahrung ist, die wir heute im Leben auch machen. Es gibt diese Momente, an denen einfach etwas zu Ende ist. Und zwar erst einmal ohne Licht am Ende des Tunnels, ohne Silberstreif am Horizont, ohne Hoffnung. Es sind in diesen Tagen die Kriege dieser Welt, die uns genau in diese Szene setzen. Bei denen wir hilflos mit ansehen müssen, wie das, was da passiert, uns den Boden unter den Füßen wegzieht.

Jedes Kind, jeder Erwachsene, der im Krieg, der in der Ukraine stirbt, setzt uns genau in die Karfreitagsszene hinein, die von den Evangelisten erzählt wird.

Für genau diese Erfahrungen gibt es den Karfreitag, die Erzählung von Jesu Kreuzigung und Tod. In der Mitte den Menschen und Gottessohn Jesus von Nazareth, der dieses Leben so gelebt und erlitten hat, wie wir anderen auch.

Das Wort vom Kreuz ist eben keine Theorie über Sünde und Tod, die wir glauben müssten, kein Katechismus-Satz über stellvertretendes Leiden, den wir auswendig lernen müssten. Das Wort vom Kreuz ist eine Geschichte – und vielleicht finden wir ja in dieser Geschichte unseren Platz: Ach ja, das kommt mir doch bekannt vor; da erkenne ich dich wieder – und vielleicht auch mich; oder auch: wie merkwürdig, wie abstoßend ist das!

Wir erfahren Dinge, die uns berühren – auch von der Unbegreiflichkeit Gottes. Dinge, die uns tief berühren – und die uns auch in unserem Alltag weiterhelfen können. Die biblischen Schriftsteller von damals haben bei ihrem Wort vom Kreuz nicht an die große RTL-Live-Show „Die Passion“ gedacht. Sie wurde am Mittwoch dieser Karwoche live aus der Essener Innenstadt im Fernsehen übertragen. Wenn ich jedoch ernst nehme, dass das Wort vom Kreuz eine Geschichte ist, die erzählt werden will, dann kann auch das Fernseh-Format eine Chance sein, sich in dieser Geschichte wiederzufinden.

Als christliche Kirchen waren wir bis in die Nacht hinein mit unseren Seelsorger:innen in der Essener City präsent. Wir haben auf die vielen kleinen „Kreuz-Geschichten“ der Essener Bürger:innen gehört – und dabei erlebt, dass vielen das Wort vom Kreuz nahe ging. Denn es ist eine Geschichte, in der wir selbst Platz finden. Die Hauptfrage ist, wo kommen wir da vor? Als Zuschauer:innen, die von ferne zuschauen? Als Freund:innen Jesu, die im Garten Gethsemane eingeschlafen sind? Als Judas, der bezahlt wird?

Es gibt keinen Ort in der Welt, auf den der Schatten des Kreuzes nicht fiele… Kein Asyl gewähren, Frauen vergewaltigen, Kinder verhungern lassen: das ist der Schatten des Kreuzes. Das Wasser verseuchen, die Schöpfung verwüsten, Tiere quälen: der Schatten des Kreuzes. Vergessen, verschweigen, es nicht aufbauschen wollen, verdrängen, es nicht gewusst haben, es für einen Einzelfall halten, es zulassen: der Schatten des Kreuzes. Und dabei die vielen Tränen… von Jungen und Alten… In Psalm 56, einem der ältesten Gebete der Menschheit, heißt es:

Gott, sammle du meine Tränen in deinen Krug.

Ein wunderschöner Vers, der von der Erfahrung gespeist wird, dass Gott unsere Tränen sieht, die geweinten und die ungeweinten. Und dass wir darauf vertrauen dürfen, dass er sie sammelt. Weil sie kostbar sind! Sie sind Teil unserer Geschichte. Und es liegt eine Verheißung auf ihnen, dass sich etwas verwandeln und verändern kann.

Marion Greve