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Baustelle – lebenslang???

Darum verlieren wir nicht den Mut. Wenn auch unsere körperlichen Kräfte aufgezehrt werden, wird doch das Leben, das Gott uns schenkt, von Tag zu Tag erneuert. (2. Korinther 4,16)

„Baustelle! Schon wieder eine? O nein! Daher dieser lange Stau!“ Bei dem Wort „Baustelle“ denken viele Leute gleich an abgesperrte oder verengte Fahrbahnen auf Autobahnen. 560 Autobahnbaustellen gab es 2019 in Deutschland, das bedeutet auch: 521 000 Stunden Stau!!! Kein erfreuliches Thema. Aber ohne Baustellen keine sicheren Brücken, keine gute Streckenführung, kein intakter Fahrbahnbelag.

Und wie ist es im städtischen Verkehr? Der häufigste Grund für die derzeitigen Baustellen in Essen sind Arbeiten an der Kanalisation und an den Leitungen für Gas und Trinkwasser. 3221 Kilometer Leitungen und 1642 Kilometer Abwasserkanäle müssen von den Stadtwerken in Schuss gehalten und bei Bedarf erneuert werden. Und dieser Bedarf sorgt für zahlreiche Baustellen auf den Straßen der Stadt. Auch lästig – aber so notwendig!

Notwendig ist auch der Bau neuer und der Wiederaufbau zerstörter Häuser nach Katastrophen und Kriegen. Wie viele Menschen begrüßen die Tunnel durch Berge wie den St. Gotthards-Tunnel (17 Jahre Bauzeit!) oder Tunnel unter Wasser, wie den 50 km langen Eurotunnel nach England. Oder die Deiche. Besonders in den Niederlanden. Dort ist kaum jemand sauer, dass ständig an den Deichanlagen gebaut und verbessert wird: denn ohne die Deiche und Flutsperr-Anlagen wäre heute ein Drittel der Niederlande unter Wasser, von der See überflutet. Amsterdam, Rotterdam, Den Haag…

Baustellen – hinterher ist da meist etwas, für das sich der Aufwand gelohnt hat. Für eine gewisse Zeit – und dann geht es wieder los: Reparatur, Ausbesserung, – Baustelle. Lebenslang. Lebenslang? Das hört sich nicht gut an, fast wie ein Strafmaß. „Freiheitsentzug, lebenslang…“ Von Kathedralen weiß man es: sollen sie erhalten werden, muss ständig ausgebessert werden, „ewige Baustelle“. Der Zahn der Zeit nagt aber überall. Und dagegen kann man nur eines tun: Baustellen einrichten. Wenn sie gut geplant sind, sollte man sich nicht dagegen wehren.

Aufbau-Abbau-Umbau – das ist Leben. Die Natur macht uns das ja auch vor: Lebendiges besteht aus Zellen, die Stoffwechsel haben. Lebt eine Zelle, dann nimmt sie Stoffe auf, baut sie um, gewinnt Lebenskraft, Energie, und scheidet das aus, was sie nicht braucht. Da ist rund um die Uhr etwas los. Und in den Pflanzen sehen wir, wie alles darauf hinzielt, dass es Blüte und Frucht oder Samen gibt und wieder Neues entsteht, neue Baustellen. Unablässig. Hört das Hin- und Hertransportieren auf – dann gibt es eben auch kein Leben mehr.

So ist auch der Körper des Menschen natürlich eine „ewige Baustelle“, solange er funktioniert. Eine fantastische Baustelle. Und jeder kann viel dazu beitragen, dass hier alles gut läuft: durch Ernährung, Bewegung, Sport, Training, Sorgfalt.

Aber auch das, was in der Seele, im Geist im Verstand sich ereignet – das, was ich mein Leben, meine Person nenne, auch das verträgt keinen Stillstand. Veränderungen gehören einfach zum geistigen Leben. Natürlich sind da Baustellen – wir denken nur oft nicht darüber nach, dass da alles „im Werden“ ist. Von Anfang an.

Und immer wieder ändern sich die Umstände. Bin ich diesen Situationen ausgeliefert? Nicht, wenn ich mich auf neue Baustellen einlasse. Da kann ja etwas geändert werden, da ist nicht Endstation, da geschieht etwas. Und je flexibler ich mich darauf einstelle, desto besser werde ich damit zurechtkommen.

Aber manchmal leidet man unter den Baustellen, gerade unter den inneren Baustellen: Man möchte auch mal „zur Ruhe“ kommen.

ICH soll mich ändern? Warum? Alles ist so schwierig! Baustellen sind nervig – ich will alles so haben wie immer: Tradition, Meinung, Reaktion, Umgangston. Lass mir meine Vorurteile! Da kenne ich mich wenigstens aus. Nicht schon wieder was Neues! Das mag ich nicht. Ich dulde einfach keine Baustellen!!! Basta! Baustellen sind uncool!

Oder habe ich einfach zu viele Bauruinen, weil ich immer wieder etwas Neues anfange, ohne das Alte zu Ende zu bringen? Habe ich dadurch das Gefühl, nichts richtig zu können, zu haben, zu wollen, zu schaffen? Und: Woran liegt das? An den Baustellen oder an mir? Und so kann man vieles aufzählen, was einen hindert, positiv, sinnvoll mit Baustellen umzugehen.

Es geht aber auch anders: Gerne die Chancen nutzen, die die Baustellen bereithalten. Das geht nämlich auch!!! Mit Baustellen leben, nicht trotz der Baustellen. Dankbar die Baustellen nutzen, um etwas aufzubauen, zu gestalten, zu leben, lebendig zu sein.

Passend zu diesem Thema hörte ich im Radio von Dörte Maack, die zur Trapezakrobatin ausgebildet wurde. Sie war Straßenkünstlerin, Akrobatin und Gründerin der Theatercompany. Sie erblindete mit 23 Jahren. Da entstand eine Riesenbaustelle bei ihr. Aber trotzdem (oder gerade deshalb?) absolvierte sie ein Studium der Pädagogik, Sportwissenschaft und Linguistik und arbeitet heute als Moderatorin, Rednerin und Coach. Nun schrieb sie ein Buch: „Wie man aus Trümmern ein Schloss baut. Die Geschichte meiner Erblindung und wie ich wieder Lebensfreude fand“ (Patmos-Verlag).

Man kann nämlich stärker werden auf den Baustellen, durch Freude am Aufbauen, an den Zielen, an dem Erfolg, an Erkenntnis. Man kann anderen auf ihren Baustellen helfen, mitmachen. Sich an ihren Bauschritten mitfreuen.

Mitdenken bei eigenen und fremden Baustellen? Wie sieht das aus? Mal ganz praktisch: Nicht warten: Wer räumt hier mal auf? Nicht nur fragen: Warum geht immer so viel kaputt? Warum immer ich? Sondern zupacken und aus Fehlern lernen. Dazu sind sie da!

Gute Fragen: Wie gehe ich mit mir selbst um, wenn ich verletzt wurde, wenn ich wütend bin? Wenn ich mich schäme? …

Wie gehe ich mit meinen Mitmenschen um, denen es so ähnlich geht? Bin ich nachsichtig? Habe ich Verständnis?  Wie kann ich Hilfe sein? Wo muss ich es sein, wo sollte ich nicht? Mit solchen Fragen geht es auf den Baustellen zügig voran. Ich muss eben Antworten finden.

Ein ziemlich herausfordernder Job!? Wer hilft mir dabei? Natürlich brauchen wir kompetente Hilfe. Selbst wenn wir uns auf Erfahrung anderer stützen – immer machen wir etwas zum ersten Mal. Wir sind nicht von Anfang an kompetent. Außerdem: Wir wissen nicht, worauf unser Leben hinausläuft, was für uns wirklich gut ist, wir sehen uns nicht von außen. Wir müssten eigentlich schlaflose Nächte haben, wenn wir nicht wüssten, dass es da jemanden gibt, der uns kennt und der uns begleitet. Unsere Baustellen müssen nicht zu Ruinen verkommen. Da sind wir aber absolut nicht allein gelassen.

Der lebendige Gott, der Leben geschaffen hat, der dich und mich geschaffen hat, hat uns natürlich auch genau das gegeben, was uns lebendig erhält, was uns immer mehr verstehen lässt, was Leben ist. Er hat sich selbst gegeben. Er ist da – nur ein Gebet entfernt. In dir.

„Und wirklich, er ist jedem von uns ja so nahe! Durch ihn allein leben und handeln wir, ja, ihm verdanken wir alles, was wir sind“ (Apostelgeschichte 17,27-28).

Kaum zu glauben? Nur im Glauben kann man es denken. Das ist so ein tiefes Geheimnis und so reich und wunderbar, dass es ein ganzes Leben braucht, um das immer neu und immer tiefer zu erfassen und damit zu leben. Das geht nicht auf einmal. Gott sei Dank. Denn durch Schwierigkeiten, Veränderungen, neue Situationen, neue Erfahrungen reift der Glaube. Das Vertrauen wird täglich fester und fröhlicher und stabiler und gesünder. Martin Luther sagt: Du musst einfach jeden Tag „… umkehren in die offenen Arme Gottes“ – so formuliert er es im Katechismus und nennt es „Buße“.

„Darum verlieren wir nicht den Mut. Wenn auch unsere körperlichen Kräfte aufgezehrt werden, wird doch das Leben, das Gott uns schenkt, von Tag zu Tag erneuert“ (2. Korinther 4,16).

So erhalten wir immer wieder neue Kraft, Zuversicht, Schwung und neue Impulse. Und das haben wir so nötig! Wenn ein Mensch so tut, als wäre er perfekt und brauchte keine Veränderung, dann macht er sich eigentlich lächerlich und unglücklich. Eigentlich ist er da schon geistlich tot. Es tut sich nichts mehr bei ihm. Genauso ist es mit einer Gemeinschaft, mit der Kirche, die ja aus „lebendigen Steinen“ besteht, aus Menschen, in denen Gottes Geist lebendig ist.

Sie braucht natürlich ständig ein göttliches Update. Damit sie so von Gott reden kann, dass sie verstanden wird, in Leben und Wort. Das ist ihr Auftrag.

Christen – Baustelle Gottes? Natürlich! Und einfach gut.

Erika Steinbeck