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Vom Sehnen und vom Seufzen

Herr, all mein Sehnen liegt offen vor dir, mein Seufzen war dir nicht verborgen. (Psalm 38, 10)

Anfang Oktober feiern wir Erntedank. Ein schönes Fest, an dem wir Gott für die Erntegaben danken. Oft erinnern wir uns dann auch daran, dass wir Gott doch so viel mehr zu verdanken haben, als wir uns meist bewusst machen. Vieles nehmen wir für selbstverständlich, was uns an Gutem tagtäglich widerfährt. Auch Tischgebete, in denen wir Gott danken könnten, sind ziemlich aus der Mode gekommen. Wohl auch deshalb, weil wir uns kaum noch die Zeit nehmen, in Ruhe oder in Gemeinschaft zu essen.

Vor kurzem hörte ich einige Äußerungen junger Menschen, die in einem Interview auf der Straße zum Thema „Beten“ befragt wurden. Viele gaben an, dass ihnen Beten helfe, vor allem bei Problemen und in schwierigen Situationen. Eine der befragten Jugendlichen gab zu, dass sie manchmal ein schlechtes Gewissen habe, wenn sie nur in Momenten bete, wenn es ihr schlecht gehe.

Da habe ich mich gefragt, ob das wirklich so schlimm ist. Schließlich heißt es doch: „Die Not lehrt beten!“ Gibt es denn ein gutes oder schlechtes Beten? Jesus sagt (vgl. Matthäus 6,6-8): Beim Beten kommt es nicht darauf an, dass ihr möglichst viele schöne Worte macht. Gott weiß schon lange, bevor ihr ihn um etwas bittet, was ihr braucht. Gott sieht das Verborgene – das heißt, Gott hört auch die Stimme unseres Herzens.

So ähnlich sagt es der Monatsspruch für Oktober: „Herr, all mein Sehnen liegt offen vor dir, mein Seufzen war dir nicht verborgen“ (Psalm 38,10). Manchmal ist es nicht leicht, die richtigen Worte zu finden, um auszudrücken, was uns auf dem Herzen liegt. Ja, manchmal fehlen uns sogar die Worte, wenn der Schmerz zu groß ist. Dann verschlägt es uns die Sprache und nur jemand, der uns gut kennt, der uns nahe ist, versteht uns dann auch ohne Worte. Wie tröstlich ist es da, dass all mein Sehnen und Seufzen vor Gott nicht verborgen ist. Gott kennt uns. Er kennt uns nur zu gut und er weiß, dass Seufzen und Sehnen eher bei uns zu Hause sind als das Danken. Eine Geschichte über die beiden Schwestern „Seufzen“ und „Sehnen“ fand ich bei Tina Willms:

Es waren zwei Schwestern, die eine hieß Seufzen, die andere Sehnen. Seufzen war ziemlich pessimistisch. Sie sah die Welt, wie sie ist. Manchmal war sie unglücklich über sich selbst. „Ach, wieder ist mir etwas danebengegangen“, seufzte sie, wenn ihre Pläne misslangen. Als hätte sie nichts anderes erwartet. – „Du jammerst zu viel“, sagte Sehnen. „Beim nächsten Mal wird es besser gehen!“ Im Gegensatz zu ihrer Schwester war sie ziemlich optimistisch. Sie sah die Welt, wie sie sein könnte. Auch sie war manchmal unzufrieden mit sich selbst. „Hätte ich anders angefangen“, sagte sie sich, wenn ihre Pläne misslangen, „so wäre es bestimmt besser ausgegangen!“ – „Hätte, hätte, Fahrradkette“, sagte Seufzen dann zu ihr. „Du träumst einfach zu viel…“

Abends saßen die beiden Schwestern nebeneinander auf dem Sofa und schauten die Nachrichten an. Fast täglich flimmerten die Bilder eines Krieges durch den Raum. „Ach“, seufzte Seufzen, „die armen Menschen, wie halten sie das nur aus?“ Manchmal weinte sie mit den Weinenden. Auch Sehnen fühlte mit denen, die litten. Vor ihren inneren Augen aber sah sie ein anderes Bild: Da wischten die einen den anderen, die weinten, ihre Tränen ab. Obwohl die beiden Schwestern sich oft nicht einig waren, waren sie doch froh, einander zu haben. „Du machst mir Mut“, sagte Seufzen ab und zu. Und ihre Mundwinkel gingen nach oben. „Und ich fühle mich von dir verstanden“, erwiderte Sehnen und lächelte zurück. So lebten sie miteinander im Haus, das sich Mensch nannte, irgendwo in einer Stadt, die Erde hieß.

Aus: Tina Willms, Wo das Leben entspringt. Inspirationen zur Jahreslosung und den Monatssprüchen 2018, Neukirchen-Vluyn 2017, S.111-112).

Susanne Gutjahr-Maurer