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Siehe, es kommt die Zeit

Und dies wird sein Name sein, mit dem man ihn nennen wird: Der HERR ist unsere Gerechtigkeit. (Jeremia 23,6)

Mit dem Advent beginnt auch ein Aufatmen. Ein neues Kirchenjahr liegt vor uns – hinter uns liegen Allerheiligen, Volkstrauertag, Buß- und Bettag, Totensonntag. Wir haben unserer Schuld gedacht und die Verstorbenen Gott anbefohlen. Wir haben uns das eigene Sterben bewusst gemacht. Jetzt können wir aufatmen. Auch beim Singen. Die Melodien werden beschwingter, sogar tänzerischer. Selbst die biblischen Texte atmen durch und schauen in die Ferne. Siehe, sagt der Prophet Jeremia, es kommt die Zeit…

Jeremia führt uns in eine Zeit vor zweitausendsechshundert Jahren, weit zurück in das Alte Testament. Das Königreich Juda befindet sich kurz vor seinem Untergang. Und der Prophet meldet sich zu Wort.

Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, dass ich dem David einen gerechten Spross erwecken will. Der soll ein König sein, der wohl regieren und Recht und Gerechtigkeit im Lande üben wird. Zu seiner Zeit soll Juda geholfen werden und Israel sicher wohnen. Und dies wird sein Name sein, mit dem man ihn nennen wird: „Der HERR ist unsere Gerechtigkeit“. (Jeremia 23,5-6)..

Jeremia spricht diese Sätze, nachdem er die Regierenden, den König Zedekia und alle Hofpropheten, ordentlich abgemahnt hat: Eine Obrigkeit bilden sie, die ihrer Verantwortung nicht nachgekommen ist. Ungerechtigkeit hat sich breit gemacht. Der Kirchenvater Augustin sagt dazu: „Ein Staat ohne Gerechtigkeit gleicht einer großen Räuberbande“.

In dieser dunklen Zeit ruft nun Jeremia den Menschen zu, dass Gott eingreifen wird. Er wird eine neue Zeit herbeiführen, in der ein gerechter König herrschen wird. Er malt Hoffnungsbilder von neuer Sicherheit und vor allem von einer neuen Zeit der GERECHTIGKEIT!

Adventliche Erwartung auf eine Zeit der Gerechtigkeit – sie verbindet uns mit den Menschen in Israel vor zweitausendsechshundert Jahren.

Siehe, es kommt die Zeit… Welche Sehnsucht und Hoffnung treffen diese Worte in Ihrem Leben? Die Sehnsucht nach Ruhe, nach Gemeinschaft ohne Streit, nach Zeit füreinander… kein Stress, keine Mühe… Die Sehnsucht nach einer gerechten Regierung, die jedem das seine zukommen lässt, wie es seinen Leistungen, Verdiensten und Bedürfnissen entspricht. Nach einem sozial gerechten Staat, der Menschen vor Notlagen bewahrt und ihnen im Falle der Not Hilfe anbietet.

Siehe, es kommt die Zeit… Wir sprechen die Worte des Jeremia im Herzen und in der Seele mit, weil wir sagen: nie und nimmer finden wir uns mit den Ungerechtigkeiten um uns herum ab. Nie und nimmer finden wir uns damit ab, dass Eltern in ihrem Stadtteil keine gute Bildung für ihr Kind bekommen, dass noch viel zu oft ein Kindergartenplatz fehlt. Nie und nimmer finden wir uns damit ab, dass in Essen jedes dritte Kind von Kinderarmut betroffen ist. Nie und nimmer finden wir uns damit ab, dass der Geburtsort über den weiteren Lebensweg entscheidet. Nie und nimmer finden wir uns damit ab, dass Menschen zu wenig zu einem würdigen Leben verdienen.

Viel Grund, uns die Erwartungshaltung des biblischen Textes zu Eigen zu machen:  Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, dass ich dem David einen gerechten Spross erwecken will. Der soll ein König sein, der wohl regieren und Recht und Gerechtigkeit im Lande üben wird.

Was genau meint der Prophet?

Besonders im Alten Testament „ist das Tun gerecht, das für die armen und entrechteten, die schwachen und geschundenen Menschen Partei ergreift und ihr Leben aufrichtet“ (Jürgen Ebach, Das Alte Testament als Klangraum, S. 213). Die Bibel ist an diesem Punkt ganz konsequent und hochaktuell: Wenn wir in diesem Sinne gerecht handeln und uns für andere einsetzen, dann ist Gott selbst ganz nahe. Denn sein Name ist Gerechtigkeit. Er steht auf der Seite derer, die benachteiligt werden, er hält zu ihnen. Er flüstert Ihnen ins Ohr: So, wie es jetzt ist, wird es nicht bleiben. – Es kommt die Zeit…!

Die Wochen vor Weihnachten sind eine Zeit für grundsätzliche Gedanken über unser Leben. Und zwar gerade, weil wir eben nicht einen holden Knaben im lockigen Haar feiern, sondern weil es uns Christinnen und Christen um Gott selbst geht. Anders als die Juden glauben wir, dass die Verheißung des Messias, des Heilandes, in dem Kind in der Krippe, in einem ganz besonderen Menschen schon erfüllt wurde. Gemeinsam mit den Juden hoffen wir, dass sich die Verheißung des Friedens für alle, des Schalom, eines Tages für alle Menschen erfüllen wird. Siehe, es kommt die Zeit…

Heute feiern wir Christinnen und Christen den, der uns Gerechtigkeit gebracht hat: Jesus Christus. Er ist das Fundament unserer Sehnsucht nach globaler Gerechtigkeit. Seitdem sind Christen eine weltweite Gemeinschaft von Menschen, die danach „hungern und dürsten“. Un die Welt, die Gerechtigkeit verlangt, hört nicht an unseren Grenzen auf. Bei allen verständlichen Klagen über einen sinkenden Lebensstandard in unserem Land – wir sollten von unserem Wohlstand mehr haben als nur die Furcht, ihn zu verlieren. Genug zu essen, sauberes Wasser zum Trinken, ein Dach über dem Kopf, eine Schule für die Kinder, ein Arzt für die Kranken – für die meisten Menschen bleibt das, was für uns selbstverständlich ist, immer noch ein Teil des Traumes von sozialer Gerechtigkeit.

Siehe, es kommt die Zeit… – es sind tatsächlich nur fünf Worte, die eine Sehnsucht ansprechen, die wir alle kennen: Da kommt noch etwas… da steht noch etwas aus, auf das wir warten.

Ich spüre, wie mich diese Hoffnungsworte packen – dass ich ihnen Raum geben will in meinem Leben. Wie kann mir, wie kann uns allen das gelingen, dass wir dieser Vision von Gerechtigkeit Raum geben? Dass wir die Sehnsucht wachhalten, dass es anders sein könnte, heller, kreativer, lebensfroher – lebenssatt?

In meinem Alltag helfen mir Rituale, diese Hoffnung wachzuhalten. Jedes Jahr hängt in meinem Arbeitszimmer der Kalender „Der Andere Advent“ – gefüllt mit Texten und Bildern für jeden Tag im Advent. Sie helfen mir, die Hoffnung wachzuhalten… Oder, beim Weihnachtseinkauf in der City, einfach einmal in eine unserer schönen Kirchen zu gehen, Stille zu atmen, innezuhalten und sich darüber klarzuwerden, warum wir das eigentlich alles tun. Diese Hoffnung zu spüren, die mit Jeremias Worten verbunden ist: Siehe, es kommt die Zeit!

„Der HERR ist unsere Gerechtigkeit“: Der Name des kommenden Königs, den Jeremia verheißt, ist einer, der die Welt gerecht macht. Der uns jetzt die Tatkraft gibt, Schritte daraufhin zu tun. Sichtbar werden diese Schritte zum Beispiel an den Stellen, an denen wir in unserer Stadt das Thema der Armut und sozialen Ausgrenzung in den Blick nehmen. In Essen ist jedes dritte Kind von Kinderarmut betroffen (in unserem Bundesland ist es jedes fünfte, schlimm genug!). Räumlich konzentriert sich Armut speziell in den Stadtteilen der Innenstadt und in Altendorf, Bergeborbeck, Altenessen-Süd und Katernberg. Wo jemand geboren wird, entscheidet dort viel zu häufig über den weiteren Lebensweg. An der Schullaufbahn wird dies deutlich: Viel mehr Kindern aus dem Essener Süden gelingt der Sprung aufs Gymnasium. In Bredeney liegt die Übergangsquote zum Gymnasium bei 88 Prozent – in Vogelheim bei 19 Prozent. Das soziale Nord-Süd-Gefälle vertieft sich.

Die Evangelische und die Katholische Kirche, ihre Diakonie und ihre Caritas beteiligen sich daran, Armut im Ansatz zu bekämpfen. Denn gerade im Ruhrgebiet ist durch die hohe Sockelarbeitslosigkeit ein erhöhtes Armutsrisiko gegeben. Bei all unserem christlichen Einsatz dürfen wir das nicht aus den Augen verlieren. Mit unserer sozialdiakonischen Arbeit geben wir vielen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in unseren Jugend- und Gemeindehäusern, in Familienzentren und Einrichtungen der Diakonie ein zweites Zuhause. Streetwork, Freizeitangebote, internationale Angebote weisen den richtigen Weg.

Siehe, es KOMMT die Zeit… JETZT ist die Zeit an uns, die Worte des Propheten nicht als leere Phrasen in den Kirchen und Gemeindehäusern verhallen zu lassen, sondern sie umzusetzen. Und uns damit in unserem Umfeld für eine gerechtere Welt einzusetzen. Vielleicht kennen Sie das Gebet von Franz von Assisi: Gott, mache mich zu einem Werkzeug deines Friedens! Mit Jeremia beten wir: Gott, mache mich zu einem Werkzeug deiner Gerechtigkeit!

Marion Greve