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Kaleidoskop des Glaubens

Leo Tolstoi erzählt eine alte russische Sage, „Die drei Greise“: Ein Bischof fährt mit einem Schiff über das Meer. Er hört von einer Insel, auf der drei fromme Greise wohnen, die dort ihr Seelenheil suchen. Er fragt den Kapitän, ob man einen Zwischenhalt einlegen könne, damit er die drei Alten besuchen kann. So nehmen sie Kurs auf die Insel, setzen Anker und ein Boot bringt den Bischof zur Insel.

Die Greise kommen und verneigen sich vor ihm. Er segnet sie und sagt. „Ich habe gehört, dass ihr, Greise Gottes, hier euer Seelenheil sucht … ich bin aber ein unwürdiger Knecht Gottes, durch seine Gnade berufen, seine Herde zu weiden; so wollte ich auch euch … sehen und euch, wenn ich kann, Belehrung erteilen. … Sagt mir, wie ihr euer Seelenheil sucht und Gott dient.“

Die Greise blicken einander ratlos an. Schließlich antwortet einer: „Wir verstehen nicht, Gott zu dienen, wir dienen nur uns selbst untereinander und sind um unser eigenes Leben besorgt.“ „Wie betet ihr denn zu Gott?“ Und der älteste sagt: „Wir beten so: Ihr seid drei, wir sind drei, steh uns bei!“ Der Bischof lächelt: „Ihr habt wohl etwas von der Heiligen Dreifaltigkeit gehört, versteht aber nicht, richtig zu beten … ich will es euch lehren.“

Und so beginnt er, ihnen Vers für Vers das Vater Unser beizubringen. Immer und immer wieder wiederholen sie die einzelnen Teile. Die Sonne geht schon unter, als sie es endlich von vorne bis hinten können. Noch während der Bischof zum Schiff zurück gerudert wird, hört er sie das Vaterunser unaufhörlich wiederholen.

Sie setzen die Segel und bis tief in die Nacht steht der Bischof tief bewegt an Deck und dankt Gott für die Begegnung mit den guten Greisen. Da meint er im Mondlicht aus Richtung der Insel ein Licht auf das Boot zukommen zu sehen. Er versteht nicht, was es ist und fragt den Steuermann. Der blickt durch sein Fernglas und ruft erschreckt: „Mein Gott! Die Greise laufen uns nach auf dem Meer wie auf dem Trockenen!“

Das weckt die anderen Passagiere und sie alle sehen, wie die Greise über das Wasser laufen. Als sie am Boot ankommen, sagen sie zum Bischof: „Wir haben deine Lehre vergessen, Knecht Gottes! … als wir es eine Stunde nicht aufsagten, vergaßen wir ein einziges Wort und das ganze Gebet fiel auseinander. Wir haben alles vergessen, lehre es uns wieder!“

Der Bischof schlug ein Kreuz, beugte sich über Bord und sagte: „Auch euer Gebet findet bei Gott Wohlgefallen, ihr Greise Gottes, ICH bin nicht berufen, euch zu lehren. Betet für uns Sünder!“ Und er verneigt sich tief vor den Greisen.

Die aber kehrten um und bis zum Morgengrauen sah man noch einen Lichtschein an der Stelle, wo die Greise entschwunden waren. (Frei erzählt nach Tolstoi, Die drei Greise, in: Tolstoi, Leo: Wieviel Erde braucht der Mensch?)

Ist das nicht eine wunderbare Geschichte? Besonders dieses Gebet: „Ihr seid drei, wir sind drei, steh uns bei.“

Was ist unser christlicher Glaube, was muss man wissen? Und was hat diese Geschichte mit uns, 500 Jahre nach der Reformation zu tun? Mit meiner zur Begrüßung angeschlagenen heutigen Reformationsthese, dass wir neu, freier, mit neuen Bildern und Worten über den Glauben reden müssen?

Wir Menschen machen sich immer ganz viele Gedanken über Gott. Mich ja eingeschlossen. Die Bücher über den Glauben füllen ganze Bibliotheken, schon zu Luthers Zeiten. Die kirchliche Glaubenslehre, ausgefeilt und groß wie ein Gebäude. Ein Lehrgebäude wie man so sagt.

Und Luther sieht Fehler in diesem Lehrgebäude. Am Anfang ist es nur der Ablasshandel, aber damit verbunden ist das Verständnis der Vergebung, damit verbunden das Verständnis des Menschen und des Abendmahls, der Bibel, des Papsttums und in kürzester Zeit bleibt kein Glaubensstein auf dem anderen. Allein die Bibel soll noch Richtschnur sein für das, was wir Glauben. Und so entwickelt er mit seinem Freund Melanchthon und Anderen von der Bibel her neu die Antworten auf die Fragen des Glaubens. Alles ist in Bewegung in dieser Zeit und wird neu durchdacht.

Was wir dabei manchmal übersehen: All das geschah nicht im luftleeren Raum. Es war kein reines Zurück in das biblische Zeitalter der Antike, sondern ein aus der Bibel aktualisiertes Verständnis für seine Zeit. Für die Menschen des ausgehenden Mittelalters, denen er „aufs Maul schaut“ wie er sagt, um ihre Sprache zu sprechen und Antwort auf die Fragen der Zeit zu geben. Dabei denkt Luther aber immer auf mittelalterlichem Hintergrund: Die Erde ist für ihn eine Scheibe und der Teufel ist für ihn so real, dass er sein Tintenfass nach ihm wirft.

Und doch entstehen so die ersten Bausteine eines neu formulierten Glaubens, der auch den Geist der beginnenden Neuzeit atmet, etwa der Freiheit des Individuums. Und diese Bausteine werden zusammengesetzt. So entsteht mit den Jahren ein neues, evangelisches Lehrgebäude. Es wird größer, vollständiger aber nach Luthers Tod schon bald wieder starr, als wäre es zeitlos. Nur 35 Jahre nach Luthers Tod beginnt das Zeitalter der Lutherischen Orthodoxie, in dem die neue Lehre so starr geworden ist, wie zuvor die katholische.

Bis 100 Jahre später der Pietismus sagen muss: Hallo, Glaube ist doch nicht dieses starre Lehrgebäude, sondern der lebendige Glaube im Herzen wie bei Luther. Reformation ist, so lernen wir, kein einmaliger Vorgang und dann ist es erledigt, sondern gehört unbedingt ständig zur Kirche.

Wichtig, weil die Kirche vom Weg abkommen kann, und sich immer wieder fragen muss: Sind wir noch auf dem Weg Jesu? Und wichtig auch deshalb, weil unser Wissen, unser Weltbild sich verändert und die alten Formulierungen schon allein dadurch unverständlich werden oder sogar missverständlich.

Aber wir Menschen sind manchmal träge Geschöpfe. Sich ändern, eigene Einstellungen ändern, den Glauben neu bedenken, das macht nicht immer Spaß. Und es ist ja auch nicht immer sinnvoll! Wenn man ständig seine Einstellungen ändern würde, man wüsste ja kaum noch, wer man ist. Und es gibt wahrlich wichtigeres im Leben, als ständig seine Einstellungen, seine Ansichten oder seinen Glauben zu verändern.

Nur manchmal ist es sinnvoll: Wenn man einen neuen Gedanken hört und merkt, da ist Musik drin, der führt mich in die Weite, in die Freiheit, zu Gott, zu anderen Menschen. Oder wenn man selbst merkt, dass alte Formulierungen, die man in sich trägt, in Konflikt kommen, mit anderem, was man erfährt. (Vielen Menschen, die sagen, ich kann nicht mehr an Gott glauben, möchte ich zurufen: Kipp doch nicht das Kind mit dem Bade aus. Nicht der Glauben selbst ist falsch, sondern vielleicht nur deine bisherigen Glaubensvorstellungen.) Wenn das passiert, dann macht die Mühe des neuen Nachdenkens Sinn.

Deshalb meine These zum Reformationsjubiläum: „Lasst uns neu, freier, mit neuen Bildern und Worten über den Glauben reden.“ Denn es gibt immer mehr Menschen, die mit den traditionellen Formulierungen unseres Glaubens nicht viel anfangen können. Oder sie merken, wenn wir das Glaubensbekenntnis sprechen: „Vieles davon glaube ich eigentlich gerade nicht – so, wie es da gesprochen wird!“

Aber wie können wir unseren Glauben so formulieren, dass wir wie Luther den Leuten „aufs Maul schauen“, also „ihre Sprache sprechen“ wie wir heute sagen würden?

Das geht nicht mehr wie bei Luther in seiner Zeit durch einen einzelnen Menschen. Denn etwas ist heute total anders: Zu Luthers Zeiten waren alle Menschen katholisch – vom Bettler über die Bauern und Fürsten bis zum Kaiser. Und: Alle hatten dasselbe Weltbild: Die Erde ist eine Scheibe, darunter ist die Hölle, wo wir nicht hinwollen, und darüber Gott und der Himmel. Jeder Mensch dasselbe Weltbild.

Wenn wir heute dagegen eine Minute durchs Fernsehen zappen, sehen wir Dutzende Menschen mit ganz verschiedenen Lebenseinstellungen, Glau-benshintergründen und Weltbildern. Und es gibt keine Instanz mehr die sagen kann: Das und das ist richtig.

Luthers geforderte Freiheit des Individuums in Glaubensdingen – „Hier stehe ich, ich kann nicht anders.“ – Diese Freiheit prägt heute unser aller Leben und sie ist heute zur Pflicht geworden. Jeder muss heute selbst entscheiden, was er glaubt und muss aus einer Riesen-Palette von Glaubensvorstellungen aussuchen, was ihm einleuchtet.

Wer kann da für all diese unterschiedlichen Menschen mit so unterschiedlichen Lebenshintergründen und Weltbildern beschreiben, wie unser Glaube zutreffend ausgedrückt ist?

Eben: Kein neuer Luther mit seiner einzelnen Sicht, sondern wir können nur noch das ernst nehmen, was Luther gesagt hat über das Priestertum aller Gläubigen: Jeder einzelne von uns ist ernst zu nehmen mit seiner Sicht der Welt, seinem Gewissen und seinem Glauben. Nur im gemeinsamen Gespräch können wir mögliche Sichtweisen zusammentragen und überlegen, was uns auf welchem Hintergrund als christlich einleuchtet.

Und damit komme ich zum Kaleidoskop. Ich finde das ist ein super Symbol für unseren christlichen Glauben heute und wahrscheinlich auch in Zukunft. Jeder, der durch ein Kaleidoskop schaut, sieht ein anderes Bild. Es gibt hunderttausende Möglichkeiten dessen, was ich da sehe. Wie unser je persönlicher Blick auf den Glauben und unsere Glaubenssymbole.

Es sind super schöne Bilder, die wir da im Kaleidoskop sehen. Zugleich sind sie in ihrer Grenzenlosigkeit so kompliziert, dass wir sie kaum beschreiben können. Aber wenn wir uns davon erzählen, werden wir merken, dass wir ähnliche Grundbausteine finden.

In so einem Kaleidoskop sind ja unten so bunte Steinchen drin. Nicht in jedem Bild sind alle Elemente sichtbar und nicht immer sind dieselben in der Mitte, aber wir könnten zusammentragen, was da für uns hineingehört ins Kaleidoskop des Glaubens.

Für mich zum Beispiel:

ein Kreuz für Jesus und die Vergebung,
ein Herz für die Liebe
ein Ring für die Ewigkeit
ein Pfeil für die Gebote
eine Taube für den Geist
– und ein Spiegelchen für die Selbsterkenntnis

Und Gott selbst, den keiner sieht, der von ganz anderer Art ist, er könnte das Licht sein, das durch all das hindurchscheint.

Und dann finde ich für uns Christen noch super, dass so ein Kaleidoskop durch drei Spiegelflächen innen funktioniert. Dadurch entstehen ganz viele Dreierformen, die an unseren trinitarischen Glauben erinnern. Und gerade diese drei Spiegel geben dem Ganzen diese unglaubliche Tiefe eines schier endlosen Bildes.

Und wem der christliche Glaube mit den „Steinchen“ zu simpel erscheint, der kann versuchen, die Fülle des ganzen Bildes zu ergründen, kann hinabtauchen in die unzähligen Spiegelungen unserer heutigen wissenschaftlichen Welterkenntnis durch Quantenphysik und multiple Universen. – Um vielleicht am Ende zu merken, dass die existentielle, die menschlich bedeutsame Dimension dessen letztlich doch noch sehr viel zu tun hat mit dem Gebet

„Ihr seid drei, wir sind drei, steh uns bei.“

Bernd Zielezinski