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Die Ernte ist groß

Die Ernte ist groß, aber es gibt nur wenige Arbeiter, sagte Jesus zu seinen Jüngern. Darum bittet den Herrn, dass er noch mehr Arbeiter aussendet, die seine Ernte einbringen. (Matthäus 9,37-38)

1 | „Die Ernte ist groß.“ Wird das jetzt eine Selbstbeweihräucherung zum 100jährigen Jubiläum der Diakonie in Essen? Nein. Aber im Blick zurück ist doch sehr viel Dank an Menschen und noch mehr an Gott angesagt. Und auch ein bisschen Stolz auf das, was Menschen tagein tagaus und das seit Jahrzehnten, ja seit über 100 Jahren zum Wohl ihrer Mitmenschen tun.

2 | Viel mehr als Zahlen sagen für mich dazu die Originaltöne von Mitarbeitenden und von Menschen, die die Diakonie nutzen. Stellvertretend haben wir zwanzig Statements von Mitarbeitenden der vielfältigen Arbeitsfelder und der bunten Trägerlandschaft gesehen und gehört. Sie stehen für die mehr als 80 Träger in Evangelischer Kirche und ihrer Diakonie, die heute zur Diakonie in Essen gehören und hier ihren Sitz haben. In den Arbeitsbereichen sind rund 9.200 hauptamtliche Mitarbeitende tätig, mehrere Tausend engagieren sich ehrenamtlich.

Ähnlich sieht es bei der Diakonie Deutschland insgesamt aus. Über 33.000 Angebote wurden 2022 von 627.000 qualifizierten Mitarbeitenden vorgehalten, das sind noch einmal 30.000 mehr als vor zwei Jahren. Allein in Essen beraten, unterstützen und betreuen sie an über 250 Standorten täglich eine Vielzahl von Bürgerinnen und Bürger jeglichen Alters – unabhängig von Religion, Nationalität oder sozialem Status. Mit wie viel Herzblut sind sie bei der Sache. Wie viel Zuwendung spricht aus den Statements. Wie viel Fachlichkeit ist in den Sätzen versteckt. Da helfen Menschen anderen mit einer wertschätzenden Grundhaltung und voller Überzeugung über den Sinn der Arbeit, den sie tun.

3 | Stellvertretend haben wir auch zwanzig Statements von Menschen gehört, die die Diakonie nutzen und schätzen. Keiner hat gesagt: „Bei mir wurden unreine Geister ausgetrieben“ oder „Alle meine Krankheiten und Gebrechen wurden geheilt.“ Das wäre auch aus der Sicht der Träger weder professionell noch taugt es für Verwendungsnachweise. Und doch ist mehr als deutlich geworden, wie Menschen sich durch die Diakonie unterstützt wissen, wie ihnen geholfen wird, welche aufbauenden Erfahrungen sie machen, wie ihre Würde gewahrt wird.

Jesus stellt solches Tun in einen ganz großen Horizont, denn er „predigte das Evangelium von dem Reich und heilte alle Krankheiten und alle Gebrechen“. Unsere Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Annette Kurschus, hat das in ihrer Andacht zum 175. Jubiläum der Diakonie Deutschland gut für uns heute auf den Punkt gebracht: „Die Sache, die Mission, ist jeweils dieselbe: Ein Stück Himmel auf die Erde holen, und zwar sehr handfest. Nicht erst seit 175 Jahren, sondern immer schon. Jesus sagt: Ihr könnt und ihr sollt andere Gottes Liebe spüren lassen. Mitten in unserer Gesellschaft, mitten in dieser Welt, jetzt, in dieser Zeit. Geht hin und tut´s!“

4 | War damit immer alles gut in der Diakonie? Nein, wie könnte es. Christenmenschen wissen doch, dass sie berufen sind „tapfer zu sündigen“, um es mit Martin Luther zu sagen. Auch wenn viele das heute nicht gerne hören, gehört die Sünde zu unserem Leben und zu unserer Gesellschaft dazu – und zur Geschichte der Diakonie natürlich auch. Mit den dunklen Seiten in uns, in unseren Mitmenschen, in unseren Organisationen ist zu rechnen und umzugehen. Soweit es irgend geht ist vorzubeugen und dagegen anzugehen, aus Fehlern zu lernen, sind neue Erkenntnisse zu berücksichtigen.

Zwei Beispiele zur Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit: Beispiel 1: Schon Jesus hat nicht alle Krankheiten und alle Gebrechen geheilt. Dennoch: Diejenigen, die ihm begegnet sind und sich auf ihn einlassen konnten, sind bereichert ihren Lebensweg weitergegangen – und oft sogar geheilt. Andere wiederum haben sich irritiert und enttäuscht von ihm abgewendet.

Beispiel 2: Johann Hinrich Wichern, einer der großen Gründerväter der Diakonie in Deutschland vor 175 Jahren. Er hat die riesige Veränderungsnotwendigkeit in den sozialen Umbrüchen in der Mitte des 19. Jahrhunderts gesehen. Mit seiner Inspiration und seiner Organisationsgabe hat er den diakonischen Aufbruch damals mit auf den Weg gebracht und der sozialen „Kälte […], die uns geistlich in die Nähe der Polarmeere versetzt“ ein neuartiges soziales Handeln entgegengestellt. Nicht innerhalb der Kirche, die damals versagte, sondern in Vereinen und Stiftungen der Diakonie beschritten engagierte Protestantinnen und Protestanten Wege der „rettenden Liebe“ wie es damals hieß. Konkret wurde der Not gewehrt und neue Perspektiven eröffnet, etwa in Rettungshäusern für Kinder und Jugendliche.

Wer allerdings liest, wie Wichern gegen die Großstadt als Ort des Mammons, der Sittenlosigkeit und des Abfalls von Gott wettert und seine antikatholischen, antisozialistischen und antidemokratischen Ausfälle hört, erkennt schnell seine dunklen Seiten. Neben allen Erfolgen ist die Kirche mit ihrer Diakonie eben immer auch Teil der Gesellschaft mit ihren gesellschaftlichen Aufbrüchen ebenso wie mit ihren verhängnisvollen Entwicklungen.

5 | Das ist für mich kein Grund zur Resignation. Vielmehr bin ich überzeugt, dass die Diakonie von ihrer Herkunft her gut gewappnet ist, um mit diesen Widersprüchen angemessen umzugehen. Das Helfen ist kein Alleinstellungsmerkmal der Kirche und ihrer Diakonie. Im Laufe der Wirkungsgeschichte des Christentums in Europa ist das Helfen zu einem Allgemeingut geworden. Und das ist gut so! Denn Helfen ist eine zutiefst menschliche Fähigkeit und keine ausschließlich christliche oder religiöse Handlung. Zum Christsein aber gehört das Helfen als Kennzeichen dazu, in welcher Form auch immer es gelebt wird.

Menschen, die im Auftrag der Diakonie unterwegs sind, ermöglichen ganz konkrete Hilfe, die Menschenleben zum Besseren verändern. Das geschieht unter den Bedingungen des Sozialstaats und unserer eigenen Begrenztheit. Und doch gilt denen, die sich engagieren ein ganz besonderes Versprechen: In der helfenden Begegnung zweier Menschen kann mehr passieren als sich in Worten erklären lässt. Soziale Arbeit macht Sinn! Und noch mehr ist verheißen: In der Antwort auf die drängende Not und in der Hilfe, die geleistet wird, scheint etwas von Gott auf. Nächstenliebe ist offen für die Erfahrung Gottes im anderen.

6 | Damit sind wir schon bei einer Frage, die in der Kirche öfter gestellt wird, meistens mit einem skeptischen Unterton: Ist denn die Arbeit der Diakonie „evangelisch“ genug? Wenn wir auf die biblischen Grunderzählungen achten, ist mir da gar nicht bange, im Gegenteil. Der Horizont der Kirche wird da ganz weit – und das brauchen wir heute mehr denn je, um in der Zukunft zu bestehen..

In der Geschichte vom Barmherzigen Samariter im Lukas-Evangelium sind es gerade nicht die religiösen Funktionäre Priester und Levit, die helfen, sondern der einfache Mensch auf der Straße, noch dazu ein Samariter, also der mit der falschen Religionszugehörigkeit. Den jammert es, der hat Mitleid und der wird dem unter die Räuber Gefallenen zum Nächsten. Jesus macht genau diesen Samariter zum Vorbild für Nächstenliebe, wie Gott sie wünscht.

Ganz ähnlich ist es im Matthäus-Evangelium beim Gleichnis vom Weltgericht. Diejenigen, die vor Gott gut dastehen, sind ahnungslos hinsichtlich der religiösen Würde ihres Handelns. „Wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben?“ fragen sie Jesus, als der ihnen eröffnet, dass sie ihm persönlich geholfen hätten. Die religiöse Pointe besteht gerade darin, dass das soziale Handeln einfach menschlich getan wird und keine religiöse Aufladung braucht, damit es in Gottes Sinn getan wird. Es muss nur gut getan werden. In der Reformation wird das dann später in die Erkenntnis gebracht, dass wir in der „Freiheit eines Christenmenschen“ den Nächsten lieben können, ohne durch unser Tun vor Gott etwas erreichen zu müssen oder überhaupt zu können. Das ist doch auch heute noch eine befreiende Botschaft, nicht nur für Christenmenschen. Und nebenbei ein wichtiger inhaltlicher Beitrag für das Sozialsystem in unserem Land.

7 | Zurück zum Predigttext und zur Gegenwart. „Und als er das Volk sah, jammerte es ihn; denn sie waren geängstet und zerstreut wie die Schafe, die keinen Hirten haben. Da sprach er zu seinen Jüngern: Die Ernte ist groß, aber wenige sind der Arbeiter. Darum bittet den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter in seine Ernte sende.“

Es jammerte Jesus, denn er sah Menschen, die Angst haben, orientierungslos sind, Schweres durchmachen. Sich von Menschenschicksalen anrühren lassen, ist damals wie heute entscheidend, um als Kirche und Diakonie Gottes Auftrag nachzukommen. Mir fallen beispielsweise Menschen ein, die unter Einsamkeit leiden. Ich denke an die Ängste, die Krieg und Terror auslösen, nicht nur bei Geflüchteten oder bei unseren jüdischen Geschwistern. Ich denke an Kinder, die im Bildungssystem abgehängt werden, an Familien, in denen das Kindeswohl auf dem Spiel steht.

Zugleich sehe ich, wie nach Corona-Pandemie und mit den Kriegen in der Ukraine und in Israel und dem Gazastreifen die sozialen Belange in unserer Gesellschaft in den Hintergrund zu rücken drohen. Insolvenzen im Pflegebereich und bei den Krankenhäusern haben zuvor unbekannte Größenordnungen angenommen. Hilfsangebote stehen auf der Kippe. Die hohen Tarifsteigerungen werden der Leistung der Mitarbeitenden zwar gerechter, sie belasten die Träger aber in hohem Maße, da die Personalkostenerstattungen immer erst verspätet angepasst werden, wenn überhaupt.

Und vor allem fehlen die Arbeiterinnen und Arbeiter in der Ernte. Über die letzten Jahre ist in beinahe allen Arbeitsbereichen der Personalmangel zu einer großen Herausforderung geworden. Die Belastungen der Mitarbeitenden sind hoch. Manche Angebote mussten eingeschränkt werden. Fast alle Träger haben ihre Anstrengungen in der Gewinnung von Fachkräften, aber auch in der Bindung der Mitarbeitenden verstärkt, um gegenzusteuern. An der demografischen Verschiebung und der daraus resultierenden Verknappung der möglichen Anzahl von Arbeitskräften und weiteren Folgen für die gesamt alternde Gesellschaft ändert das allerdings wenig.

8 | Und dann höre ich Jesus sagen: „Die Ernte ist groß!“ Sein Kommentar zur Lage verblüfft mich. Ich hätte eher erwartet: „Die Not ist groß!“ oder „die Ratlosigkeit“. Aber nein: „Die Ernte ist groß.“ So redet ein Landwirt, der sich freut, dass er in der Erntezeit alle Hände voll zu tun hat. Jetzt ist die Ernte einzubringen. Da gibt es viel Arbeit, aber auch viel Freude. Und abends geht er todmüde, aber glücklich ins Bett. Das ist schon ein Perspektivwechsel, den Jesus vorschlägt, der mich nachdenklich macht. Der mich aber noch mehr ermutigt, die Herausforderungen anzunehmen.

Der Grund dafür wird gleich mitgeliefert. Jesus sieht Menschen in der Einzigartigkeit an, mit der Gott sie ausgestattet hat. Da geht noch was. Gott hat mit ihnen noch etwas vor. Gott gibt sie nicht auf. Nie. Niemanden. Wie schnell stehen wir in der Gefahr zu sagen: „Ach, das bringt nichts. Das geht nicht.“ Jesus sieht dieselben Menschen und sagt: „Die Ernte ist groß“. Allerdings sind wir nicht als Weltretter gefragt, sondern als Arbeiterinnen und Arbeiter auf Gottes Land. Das rückt die Perspektive zurecht und macht demütig.

9 | Die Ernte ist groß. Ja, es gibt viel zu danken für das, was in mehr als 100 Jahren in der Diakonie in Essen im Zusammenspiel mit vielen anderen möglich wurde.

Die Ernte ist groß. Ja, es gibt viel zu tun. Gott braucht Menschen wie Sie und mich, um in seinem Sinn Nächstenliebe zu üben und Menschen zu helfen. Tun wir das uns Mögliche dazu und verlassen uns noch mehr auf den, dessen Liebe uns alle trägt – AusLiebe. Amen.

Andreas Müller

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Bei diesem Beitrag handelt es sich um die Predigt, die Andreas Müller am 31. Oktober 2023 im Reformationsgottesdienst zum Abschluss des Jubiläums „100 Jahre Diakonie als Wohlfahrtsverband in Essen“ gehalten hat.