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Alles geregelt?

Als Oma mit 106 Jahren starb, da sagte Irmgard allen, die es hören wollten oder nicht: „Ich habe meine Beerdigung geregelt! Ihr müsst euch um nichts kümmern!“ Sehr bestimmt sagte sie das – so, dass ich mich gar nicht traute, nachzufragen, auch zu fragen, ob nicht vielleicht ich…

So schrecklich lange kannten wir uns noch nicht. Sie war angeheiratete Verwandtschaft, aber ich hatte sie in mein Herz geschlossen. Ich mochte sie, weil sie so emanzipiert war mit ihren über achtzig Jahren, weil sie aufgeschlossen war, sich für alles interessierte und weil sie manchmal für mich eintrat gegen ihren Großcousin, meinen Mann, den sie gernhatte und für den sie da war, seit er auf der Welt war.

„Ich habe alles geregelt, ihr müsst euch um nichts kümmern!“ – Ich habe nicht nachgefragt, was das heißt. Ich wusste, sie war in ihrer Kirchengemeinde zu Hause, ich ging davon aus, dass ihr Ortspfarrer sie kannte und ich spürte mit der Zeit, dass ich die Beerdigung gar nicht machen wollte, wenn es dran war, weil ich lieber bei denen sitzen wollte, die getröstet werden, die weinen dürfen, die trauern.

Und mittlerweile bin ich traurig, dass ich nicht gefragt habe.

Das letzte Mal, als ich sie sprach, stand ich auf unserer privaten Baustelle. Samstagnachmittag war es. Ich hatte plötzlich das dringende Bedürfnis, sie anzurufen und nachzufragen, wie es ihr geht. Sie war gleich am Telefon, erzählte, dass sie gestürzt wäre, aber die Nachbarin da sei. Und dann sagte sie in ihrer ruhigen Art: „Wenn ihr mich noch einmal sehen wollt, dann müsst ihr euch beeilen.“

Ich wusste, das ist ernst. Ich versprach sofort, dass Frank am nächsten Tag käme, dass ich versuchen würde, meinen Bereitschaftsdienst zu tauschen, um mitzukommen, aber Frank käme auf jeden Fall. Mit der Nachbarin verabredete ich abends einen Termin für den kommenden Nachmittag, weil sie dann nicht so müde sei.

Aber es kam anders. Nach meinem Gottesdienst hatte ich noch einen Einsatz, dann erst schaute Frank auf sein Telefon, sah, dass man ihn informiert hatte, dass es Irmgard schlechter ginge und wenn wir könnten, sollten wir…

Wir fuhren sofort los und kamen zu spät. Irmgard war friedlich gestorben. 93 Jahre war sie alt geworden, bis zur letzten Minute klar im Kopf, sie hatte ihre Wohnung nicht aufgeben müssen, so wie sie es sich gewünscht hatte. Sie war in ihrem eigenen Bett gestorben.

Ganz traurig standen wir davor. Wurden getröstet, weil sie nicht allein war, als sie starb, lächelten noch einmal, als wir uns daran erinnerten, wie sie noch im November darauf bestanden hatte, mit uns Martinsgans zu essen. „Irmgard, willst Du wirklich? Ich arbeite doch im Krankenhaus, nicht, dass ich Dir Corona einschleppe, wenn ich den Mundschutz zum Essen abnehme…“ – „Mieke, was habe ich davon, wenn ich nächstes Jahr womöglich nicht mehr lebe? Dann habe ich keine Gans gehabt! Ich bin vorsichtig, ihr seid vorsichtig, wir bestellen die und essen hier. Wenn ich krank werde, ist das so. Ich kann nicht nur Angst haben. Ich bin zu alt. So viel Zeit habe ich nicht mehr!“

Nein, so viel Zeit hatte sie nicht mehr. Und wir lächelten. Die Gans hatte sie gegessen. Sie hatte sich gefreut. Auch über den Kuchen zu ihrem Geburtstag, über die Friseurbesuche, die endlich wieder möglich waren. Jeden Samstag. „Meine Streicheleinheiten“ hat sie die genannt… wir lächelten und weinten. Keine Irmgard mehr. So traurig.

Und dann kam am nächsten Tag raus, was sie unter: „Ich habe alles geregelt!“ verstanden hatte: Es durfte keine Trauerfeier geben. Wir kennen ihre Grabstätte nicht, weil sie eine anonyme Bestattung gewünscht hat und ihre Traueranzeige hat sie selbst formuliert: Ein letzter Gruß an ihre Familie und Freunde.

Und ich bin nach wie vor fassungslos. Und schüttele immer wieder den Kopf. Natürlich weiß ich, warum sie das getan hat. Sie hat keine Kinder. Ihr eigener Mann ist schon lange tot, ihre allernächsten Verwandten sind mein Mann, ein Großcousin – davon hatte sie noch mehr, aber nur er hat Kontakt gehalten und eine fast neunzigjährige Cousine. Sie war immer selbstbewusst und selbstbestimmt, sie wollte nie jemandem zur Last fallen und das möchte sie auch über ihren Tod hinaus nicht. Aber wir wären gern noch für sie da gewesen. Hätten gern noch Zeit mit anderen an ihrem Sarg verbracht.

So hat sie uns, die wir sie liebhatten, einen Ort der Trauer genommen. Sie hat uns eine Möglichkeit genommen, uns trösten zu lassen, etwas zugesprochen zu bekommen in einem Gottesdienst, der uns miteinander verbunden hätte, der auch ein gemeinsamer Ort der Dankbarkeit hätte sein können, der Gemeinschaft erlaubt hätte.

Das macht mich, neben ihrem Tod, zusätzlich traurig und ich frage mich, warum leben wir mittlerweile in einer Gesellschaft, in der so viele das Bedürfnis haben, einfach zu verschwinden, sang- und klanglos – im wahrsten Sinn des Wortes – irgendwo begraben zu werden, niemandem zur Last zu fallen und das oft schon zu Lebzeiten?

Zu meiner Ordination hat mir mein Vater ein Buch geschenkt. Lachend hat er es mir geschenkt, weil wir ihn mit diesem Buch aufgezogen haben. Es war das Geschenk an Kollegen und Kolleginnen von ihm, zu dem er oft und gern griff. Also bekam auch ich es. Der Titel: Die sieben Werke der Barmherzigkeit. Ich habe es gelesen, müsste es wieder lesen, kann gar nicht sagen, was drinsteht, aber ich weiß, ich möchte hin zu einer Gesellschaft, in der die Werke der Barmherzigkeit selbstverständlich sind. In der sich keiner schämt, dem Barmherzigkeit widerfährt und in der es denen, die es können, selbstverständlich ist, es zu tun. In der wir nicht fragen, sondern einfach Hungernde speisen, Dürstenden zu trinken geben, Nackte bekleiden, Fremde aufnehmen, Kranke besuchen, Gefangene besuchen und eben auch Tote begraben.

Und gerade bei Letzterem ist gar nicht klar, wem da Barmherzigkeit widerfährt. Am Ende doch auch mir, wenn ich es tun darf. Wenn ich noch einmal Abschied nehmen kann, ein Letztes tun darf, getröstet werde, Gemeinschaft erfahre und doch auch nicht selten vom Weinen ins Lachen zurückfinde, weil es so viel gibt, wofür ich dankbar sein darf, weil manches lustig war, weil in allem Schmerz auch das Leben und unsere Auferstehungshoffnung durchscheint.

Denn bei jeder christlichen Beerdigung wird am Ende auch das Leben gefeiert.

Friederike Seeliger

Ein Gedanke zu „Alles geregelt?

  1. Zum Schmunzeln … und zum Weinen schöne Worte !
    Herzliches Beileid 💐🕯
    Danke und bitte bleib in der Nähe !

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