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Alles Ding währt seine Zeit, Gottes Lieb in Ewigkeit

Wir kennen Paul Gerhardt (1607-1676) nur mit dem abgekürzten Vornamen Paul. Sein Taufname ist aber Paulus Gerhardt. Er selbst hat sich Zeit seines Lebens nie anders genannt. Die Tradition hat ihn gleichsam umgetauft. Das ist für unsere Ohren sehr ungewöhnlich zu hören und zu verwenden.

Der Paulus des 17. Jahrhunderts gibt mit seinem unerhörten christlichen Gefühlshintergrund in seinen fast unendlich vielen schönen Liedern das, was der Paulus des 1. Jahrhunderts besaß, aber so nicht zum Ausdruck bringen konnte und wollte.

In seinem Lied „Sollt ich meinem Gott nicht singen“ (EG 325) geht es um Zeit und Ewigkeit. Neun der zehn in unserem Gesangbuch abgedruckten Strophen – im Original sind es zwölf gewesen – enden mit dem Satz: „Alles Ding währt seine Zeit – Gottes Lieb in Ewigkeit“; in Strophe 10 heißt es: „…bis ich dich nach dieser Zeit lob und lieb in Ewigkeit“.

Paul Gerhardt ist ein Spitzenreiter und Publikumsliebling schlechthin. Hätte er das doch Zeit seines Lebens so erfahren!! Viele kennen und lieben seine Lieder, aber niemand weiß so richtig, wie viele er wirklich verfasst hat. Aus dem mütterlichen Erbe besitze ich ein Buch von 1867 mit den Liedern von Paulus G., auch im Buch so genannt. Ich habe 127 gezählt. Gesichert sind heute: 15 lateinische und 138 deutsche Lieder. Das muss erstmal einer nachmachen.

Er war nicht nur der Pfarrer-Dichter schlechthin, sondern auch ein Theologe, der im berühmten Wittenberg studiert hatte, und zwar als Langzeit-Theologiestudent, 14 Jahre lang! Auf die Theologie ließ er nichts kommen. Und er bewährte sie konsequent in seinem Leben, wie wir noch hören werden.

Wir alle würden wohl sicher viel darum geben, wenn wir Paul Gerhardt nur einmal selbst seine wunderschönen Liedtexte singen hören könnten; ebenso die schönen Melodien, welche die Kantoren an der Nikolaikirche in Berlin Johann Crüger und Johann Georg Ebeling dazu komponiert haben. Der Komponist unseres Liedes „Sollt ich meinem Gott nicht singen…“ ist ein Hamburger, nicht ein Berliner gewesen: Johann Schop, Zeitgenosse der Berliner Kantoren. Ich finde auch diese Melodie wunderbar schön.

Ich bin sicher, dass nur wenige von uns das sogenannte Testament Paul Gerhardts kennen, genauer der Brief, den er wie Matthias Claudius an seinen Sohn geschrieben hat. Ich zitiere sein Vorwort wörtlich:

Nachdem ich nunmehr das 70. Jahr meines Lebens erreichet, auch dabei die fröhliche Hoffnung habe, dass mein lieber frommer Gott mich in kurzem aus dieser bösen Welt erlösen, und in ein besseres Leben führen werde als ich bishero auf Erden gehabt habe, so danke ich ihm zuvörderst für alle seine Güte und Treue, die er mir von meiner Mutter Leibe an bis auf jetzige Stunde an Leib und Seele, und an allem, was er mir gegeben, erwiesen hat.

Darneben bitte ich von Grund meines Herzens, er wolle mir, wenn mein Stündlein kommt, eine fröhliche Abfahrt verleihen, meine Seele in seine väterlichen Hände nehmen, und dem Leibe eine sanfte Ruhe in der Erden bis zu dem lieben jüngsten Tage bescheren, da ich mit allen Meinigen, die vor mir gewesen und auch künftig nach mir bleiben möchten, wieder erwachen, und meinen lieben Herrn Jesum Christum, an welchen ich bisher gegläubet, und ihn noch nie gesehen habe, von Angesicht zu Angesicht schauen werde.

In zwei langen Sätzen entwickelt Paul Gerhardt präzise und kurz seine ganze Theologie und Eschatologie, das heißt die Lehre von den Letzten Dingen. Erster Artikel, zweiter Artikel und dritter Artikel seines Glaubensbekenntnisses: Schöpfung, Erlösung und Hoffnung.

Er beginnt mit Gott, dem Vater. Dann folgt in der zweiten Strophe seine individuelle Schöpfung „in meiner Mutter Leibe“. Die Schöpfung Himmels und der Erde lässt er außen vor. Dann denkt er an sein folgendes Leben und was Gott ihm alles in dieser Lebenszeit durch Jesus Christus, den er nicht nennt, geschenkt hat an Güte und Treue. Die Hoffnung, die fröhliche, nimmt den größten Raum ein in dieser Greisenlebensphase mit 70 Jahren. Ein anderes Lebensverständnis gab es im 17. Jahrhundert dafür kaum.

Jetzt kommt, liebe Gemeinde, etwas total Überraschendes: Gerhardt wünscht sich nicht nur die fröhliche Hoffnung, sondern sogar „eine fröhliche Abfahrt“. Kann man das heute noch nachvollziehen? Als ich mit 61 Jahren in Andalusien „dem Tod von der Schippe gesprungen bin“, da dominierte bei mir nur die „die dankbare, fröhliche Rückfahrt“ ins Leben.

Doch zurück zur „Güte und Treue“ in Paulus Gerhardts Leben. Wir hörten, dass er lange Theologie an der Universität Luthers und Melanchthons studiert hat (bis 1642). Doch die Liebe hat ihn dann von dort weg und nach Berlin gezogen. Bei seinem späteren Schwiegervater Berthold ist er 1643 Hauslehrer geworden und das auch wieder acht Jahre lang.

Mit 44 Jahren ist er dann endlich Pfarrer geworden. Nicht in Berlin, sondern südlich davon, in Mittenwalde. Seine etwas unschlüssige Art hatte endlich 1652 ihr Ziel gefunden. Knapp 25 Jahre ist er Pfarrer gewesen. Mittenwalde ist seine glücklichste Zeit gewesen.

Ob er dort auch die glücklich-seligsten Lieder gedichtet hat, ist eine umstrittene Frage. „Fröhlich soll mein Herze springen“; „Wie soll ich dich empfangen“; „Ich steh an deiner Krippen hier“ – das sind nur drei wunderschöne Beispiele aus der Advents- und Weihnachtszeit, die wir, noch gar nicht lange her, gesungen haben. Sie entstanden 1653 in Mittenwalde und sind vom Berliner Kantor Johann Krüger im Entstehungsjahr vertont worden und – „Ich steh an deiner Krippen hier“ – von Johann Sebastian Bach, rund 80 Jahre später (1736),

Seine folgenden zwölf Berliner Jahre (1657-1669) an der ältesten Pfarrkirche Berlins, der Nicolaikirche, hatten es in sich. Um unsere Liedstrophen besser zu verstehen, kommen wir nicht drumherum, uns diese Jahre anzuschauen. Stichworte: Krieg und Theologie.

Der Dreißigjährige Krieg (1618-1648) hat dem Heimatland Brandenburg unheimlich zugesetzt. Krieg ist bestialisch. Denken sie nur an den sogenannten Schwedentrunk, den Zwang zum Jauche-Trinken. Ich erspare uns Weiteres. Fünf Jahre nach Beendigung dieses schrecklichen Krieges dichtete Paul Gerhardt 1653 in Mittenwalde eines seiner beliebtesten Lieder „Geh aus mein Herz, und suche Freud“ (EG 503). Da kommt schon eine Verbindung nach Berlin, der Stadt seiner Schwiegereltern, zum Vorschein, von der man nichts ahnt.

Herr über Berlin-Brandenburg ist Kurfürst Friedrich Wilhelm (1640 -1686) gewesen. Er hat seine Herrschaft mit Hilfe Hollands aufgebaut. Warum, fragen wir: Aus Liebesgründen. Schon vor Beendigung des Krieges hat er mit holländischer Hilfe den Lustgarten vor dem Schloss bepflanzen lassen mit „Narzissus und die Tulipan, die ziehen sich viel schöner an als Salomonis Seide“.  Das hat Paul Gerhardt natürlich wahrgenommen, wenn er seine Sabine Bertold besucht und im September 1643 geheiratet hat. Er war noch theologiae studiosus ohne ein Examen. Was man sich heute nicht vorstellen kann: Paulus Gerhardt zweifelte sogar, ob er zum Pfarramt befähigt sei, wie später auch Christian Fürchtegott Gellert.

Die Heimat Paul Gerhardts war im Krieg durch kaiserliche und schwedische Truppen schwer verwüstet worden. Der Vater des Großen Kurfürsten hatte den vierzehnjährigen Sohn in das verwandtschaftliche Holland geschickt, welches in allem, auch im Glauben, auf den Jungen einen unauslöschlichen, prägenden Eindruck hinterlassen hatte. 1640 wurde er der Kurfürst des zerstörten, verarmten Berlin-Brandenburg.

Und für die Liebe hatte Holland auch etwas für den Kurfürsten parat: er heiratete am 7. Dezember 1641 Luise Henriette von Oranien, mit der er wie Luther sechs Kinder hatte. Sie war die älteste Tochter des Statthalters Friedrich Heinrich von Oranien. Als Mitgift brachte sie mächtig „Knete“ mit in die Ehe. Zudem folgten der jungen Kurfürstin holländische Künstler, Handwerker, Baumeister, Landwirte und Kaufleute ins ausgelaugte Land Brandenburg.

In Berlin wird der zaudernde, schüchterne Paul Gerhardt so richtig herausgefordert, wie wir nun hören werden. Schon Kurfürst Johann Sigismund (1572-1619), der Großvater von Friedrich Wilhelm, war 1613, etwa 75 Jahre früher, zum reformierten Bekenntnis, das heißt zum Calvinismus, gewechselt. Das war eine Revolution im streng lutherischen Berlin-Brandenburg. Denn schon sieben Jahre vor dem Tode Luthers 1546 hat Kurfürst Joachim II. (15o5-1571) in der wunderbaren, anderen Nikolaikirche in Berlin-Spandau, direkt gegenüber meiner Schule, dem Kant-Gymnasium, die Reformation zum lutherischen Glaubensbekenntnis eingeführt. Er nahm persönlich erstmals an einem Abendmahlsgottesdienst in beiderlei Gestalt, das heißt mit Brot und Wein, teil.

Nun ist also im 17. Jahrhundert Kurfürst Friedrich Wilhelm Calvinist geworden aus Überzeugung durch Erziehung in Holland, Liebe und Ehe, wie wir hörten. Und er schickt sich an, seine weitverstreuten Lande von Ostpreußen bis zum Niederrhein zu einem einheitlichen Staatswesen zusammenzuschweißen. Zudem will er den unseligen Konfessionsstreit zwischen Lutheranern und Reformierten beenden. Denn Streit verbindet nicht, sondern trennt, wie wir heutzutage zur Genüge durch Donald Trumps Präsidentschaft und Wladimir Putins Angriffskrieg erfahren müssen.

Das Bestreben des Kurfürsten ist berechtigt und notwendig, die Methode der Durchsetzung aber sehr fraglich aus heutiger Sicht. Er versichert zwar, dass er niemandem seinen Willen aufzwingen will, ja er fordert sogar brüderliche Anerkennung. Alles wird aber mit Misstrauen aufgenommen.

1662 erlässt er ein erstes Edikt; darin heißt es: „…christliche Toleranz und evangelische Bescheidenheit müsse gesucht und befördert werden“. Hört sich sehr modern an, ist es aber nicht. Und jetzt tritt Paulus Gerhardt, der scharfsinnige und wortgewandte Lutheraner auf. Man glaubt es kaum, dass sich kritischer Geist mit dichterischem Gemüt so bei ihm paart. Davon weiß man heute wenig: Er entwirft Schriftsätze und Gutachten für die lutherische Seite in Zusammenarbeit mit „seiner“ Wittenberger Fakultät. Das ärgert den Kurfürsten besonders.

Zwei Jahre später verschärft sich die Lage. Alle Pfarrer sollen unter Androhung der Amtsenthebung(!!) eine Erklärung unterschreiben: „…dass ich jeder Zeit Gott mit herzlichem Gebet unterlassen will, alle Mittel zur Kirchentoleranz annehmen will.“ Das geht zu weit.

In Zusammenarbeit mit Wittenberg, Jena und Helmstedt (damals evangelische Fakultät, später Zonen-Grenzübergang!) fordert der Theologe Paul Gerhardt ein, was den Kurfürsten zum Zorne reizt. Was denn? Staatlicher Druck und kirchlicher Starrsinn – uns nicht unbekannt – schaukeln sich hoch.

Viele Pfarrer unterschreiben, einige melden sich auf auswärtige Pfarrstellen. Am 6. Februar 1666 soll auch Paul Gerhardt seine Unterschrift auf dem Konsistorium leisten. Denkste! Er weigert sich, und ihm wird daraufhin das Amt entzogen, auf Deutsch: er fliegt raus. Denken Sie mal an den Kirchenkampf im Nationalsozialismus! Hören Sie genau, was er daraufhin gesagt hat:

„Es ist nur ein geringes berlinisches Leiden. Ich bin auch willig und bereit, mit meinem Blut die evangelische Wahrheit zu besiegeln und als ein Paulus mit Paulus meinen Hals dem Schwert darzubieten.“

Was passiert daraufhin? Als Einziger muss Paul Gerhardt nicht unterzeichnen! Doch er folgt wie Luther seinem Gewissen und schreibt: „Ich fürchte mich vor Gott, vor dessen Gericht ich einst erscheinen muss.“ Er hat mit seiner Entscheidung auf sein gewichtiges Amt in der größten Pfarrkirche Berlins verzichtet. 1668 stirbt Sabine, seine geliebte Frau. Von den fünf Kindern bleibt nur sein Sohn Paul Friedrich übrig. „Befiehl du deine Wege und was das Herze kränkt…“

Die letzte Phase seines Lebens ist wenig erbaulich: Wir singen bereits in seinem wunderbaren Lied von 1653, Jahre zuvor, in Strophe 8 davon.

„Seine Strafen, seine Schläge, ob sie mir gleich bitter seind, dennoch, wenn ich´s recht erwäge, sind es Zeichen, dass mein Freund, der mich liebet, mein gedenke und mich von der schnöden Welt, die uns hart gefangen hält, durch das Kreuze zu ihm lenke. Alles Ding währt seine Zeit, Gottes Lieb in Ewigkeit.“ Das kann man wie eine Eigenprophetie lesen.

1669, er ist 62 Jahre, einsam und arbeitslos, erhält er in Lübben in Niederlausitz, südöstlich von Berlin, eine Archidiakonus-Pfarrstelle. Der Rat von Lübben hat keine Ahnung von dem Dichter-Pfarrer. Selbst die Probepredigt bleibt ihm nicht erspart. Seine Lieder kennen sie nicht. Das Pfarrhaus ist verwahrlost. Bauarbeiten gehen kaum voran.

Das muss man sich alles mal konkret vorstellen, liebe Gemeinde! Er muss erklären, kein auswärtiges Bier einzuführen und keinen Ausschank zu betreiben. Er lebt für sich, unauffällig, müde und matt. 1676 stirbt er mit 69 Jahren. Er hinterlässt seiner Kirche ein später berühmtes Bildnis: in Amtstracht mit mildem Gesicht und Bärtchen, seine linke Hand ruht auf der Bibel. Eine lateinische Inschrift lautet auf Deutsch: „Ein in Satans Sieb gesichteter Theologe“.

So kennen Sie sicher den Paulus Gerhardt nicht nach alldem, was Sie gehört haben! Jetzt singen wir sicher nach der Predigt in neuem Bewusstsein: „Alles Ding währt seine Zeit, Gottes Lieb in Ewigkeit“ und am Ende seines wunderbaren Liedes: „…bis ich dich nach dieser Zeit lob und lieb in Ewigkeit“.

Zu Beginn meiner Predigt haben sich der Paulus des 1. Jahrhunderts und der Paulus des 17. Jahrhunderts schon einmal kurz getroffen und am Ende treffen sie sich wieder, in ihrem gemeinsamen Glaubens-Blick auf die Ewigkeit. Und wir können uns da hoffentlich dranhängen: Ziel jeglichen christlichen Glaubens ist die Liebe.

Paulus, der Apostel: „…die Liebe ist die größte“ (vgl. 1. Korinther 13,13). „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht“ (ebd. 12a).

Paulus, der Dichter-Pfarrer:  Gottes Lieb in Ewigkeit, und im Vorwort seines zitierten Testaments: „…meinen lieben Herrn Jesum Christum an welchen ich bisher gegläubet, und ihn doch noch nie gesehen habe, von   Angesicht zu Angesicht schauen werde“.

Ich entlasse uns am Ende meiner Predigt mit der Frage zum Nachdenken an uns alle, ob wir mit diesen beiden, wichtigen Brüdern, dieses Glaubensziel für die Ewigkeit, dem letzten Wort unseres Herren-Gebets, teilen?! Amen.

Eckhard Schendel