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Weiße Westen, schwarze Schafe

Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder. (Matthäus 9,13)

Als es im Team der Krankenhausseelsorge hier am Universitätsklinikum vor ein paar Jahren darum ging, unsere Krippe noch ein wenig durch neue Figuren zu erweitern, da hat der katholische Kollege für einen Hütehund plädiert und ich für ein schwarzes Schaf. Ein bisschen grinsend habe ich angemerkt, dass ich sonst irgendwie keinen Platz an der Krippe hätte. Wir haben dann einen Hund gekauft und ein weißes Schaf durch die Krippenwerkstatt schwärzen lassen.

Und damit konnte ich gut leben; ja, ich habe sogar gedacht, vielleicht ist das ja auch so: weiß und damit unschuldig kommt man zur Welt, im Laufe des Lebens wird man dann dunkler, verliert man seine Unschuld, macht man Fehler, lädt man Schuld auf sich, bekommt die weiße Weste Flecken.

Wenn ich seitdem im Dezember hier immer mithelfe, die Krippe aufzubauen, dann freue ich mich nicht nur an den wirklich wunderschönen Figuren, die alle etwas Liebes ausstrahlen, sondern ich freue mich ganz besonders an dem geschwärzten Schaf, weil ich mich in seiner Nähe wohl fühle. Denn mit Hilfe dieses Schafs lassen wir, zumindest symbolisch, auch das Dunkle an die Krippe.

Und genau das war mir wichtig; ich wollte, dass sich alle eingeladen fühlen: die, die eine strahlend weiße Weste haben, und auch die anderen, deren Leben nicht ganz rund und sauber ist, die schon wissen, was Schuld ist. Ich wollte, dass alle, wirklich alle Menschen, bei Jesus vorbeischauen. Im 9. Kapitel des Matthäusevangeliums, in den Versen 9 bis 13, geht es genau darum, um die Frage: Wer darf denn zu Jesus? Wer ist da eingeladen? Es heißt dort:

Und als Jesus von dort wegging, sah er einen Menschen am Zoll sitzen, der hieß Matthäus; und er sprach zu ihm: Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm. Und es begab sich, als er zu Tisch saß im Hause, siehe, da kamen viele Zöllner und Sünder und saßen zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern.

Als das die Pharisäer sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern: Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern? Als das Jesus hörte, sprach er: Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken. Geht aber hin und lernt, was das heißt: „Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer.“ Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder.

Das erste, was mich immer wieder erstaunt und mich in kleine Selbstzweifel stürzt, ist die Reaktion des Matthäus, der da an seinem Arbeitsplatz hockt und sich einfach so wegrufen lässt. Da kommt einer vorbei, na gut, nicht einer, sondern Jesus und vielleicht hat er schon von ihm gehört; aber der kommt bloß vorbei, ruft ihn und Matthäus folgt. Er scheint alles stehen und liegen zu lassen, als habe er nur auf diesen Zuruf gewartet. Folge mir! Mehr braucht es nicht, um Matthäus in Bewegung zu setzen.

Und da frage ich mich: Bin ich auch so? Lasse ich mich auch so von Gott rufen? Folge ich immer gleich? Bin ich überhaupt immer abrufbar? Oder bin ich in meinem Arbeitsalltag nicht oft so gefangen, dass ich manches gar nicht mehr wahrnehme? Was ist Matthäus für ein Mensch, dass er sich so einfach rufen lässt? Wollte er vielleicht sogar raus aus seinen eingetretenen Pfaden? War da eine Sehnsucht in ihm, dass er anders leben wollte? Ehrlicher leben wollte? Sich verändern wollte?

Die Zöllner damals hatten mal nicht den besten Ruf. Im Gegenteil. Sie standen im Ruf, dass sie ganz ordentlich in die eigene Tasche wirtschafteten, unehrlich waren, betrogen. Und so einer lässt sich nun rufen. Einer, der keine ganz weiße Weste mehr hatte, von dem die anderen wussten, dass er tagtäglich Schuld auf sich lud. Und wie das so ist, wo einer ist, gesellen sich noch ein paar dazu. Dieses Phänomen ist unabhängig von der Westenfarbe. Aber man kennt sich halt und vielleicht haben die anderen Zöllner gedacht: Wenn Jesus schon bei Matthäus zum Essen ist, dann können wir uns dazuhocken. Vielleicht hat Matthäus sie auch eingeladen.

Da sitzt man jetzt. Hat Spaß – hoffentlich; isst gut – hoffentlich; philosophiert übers Leben. Und macht all das nicht unbeobachtet. Es gibt sofort Gerede. Die vermeintlichen Weiß-Westen kritisieren. Wissen es so viel besser. Wundern sich. Und fragen nach: Warum macht Jesus das? Warum gibt er sich mit denen ab? Ungesagt schwingt dabei mit: das muss der doch wissen, dass das alles Sünder sind, dass solche Begegnungen unrein machen. Und Jesus weiß das auch. Aber er hat keine Angst, unrein zu werden, im Gegenteil: Jesus möchte, dass alle rein werden, und genau deshalb wendet er sich ihnen zu. Nicht die Gesunden bedürfen des Arztes, sondern die Kranken.

Für uns hier in der Klinik ist das eine Binsenweisheit. Na klar, wer krank ist, der braucht einen Arzt, eine Ärztin, wer krank ist braucht Hilfe und wenn er oder sie schlau ist, dann sucht er diese Hilfe auch. Übersetzt heißt das: Die, die schon wissen, wie man gut und richtig lebt, wie man ein gottgefälliges Leben führt, die brauchen mich nicht – und Jesus sagt es jenen, die genau wissen, wie man richtig lebt, auch, ohne jede Bewertung oder Verurteilung.

Eigentlich sagt er es ganz sachlich, fast emotionslos; plädiert nur dafür, dass er weiter mit denen essen möchte, mit denen Kontakt haben darf, die ihn brauchen, damit sie wieder in die Spur kommen. Damit ihre Weste, wenn auch noch nicht wieder rein wird, so doch vielleicht keine weiteren Flecken bekommt. Also: Auch die schwarzen Schafe sind bei ihm gern gesehen. Wobei ich das nur im übertragenen Sinn meine, nicht, dass ich jetzt die Schafe in Verruf bringe.

Aber – er hat dann doch noch einen richtigen Arbeitsauftrag für alle. Und damit sind am Ende nicht nur Pharisäer oder Zöllner gemeint, die, genau wissen, wie man gottgefällig lebt, und die, deren Leben aus mehr Fehlern besteht, sondern wirklich alle: Du und Sie und ich und alle: Ich will Barmherzigkeit. Und das ist etwas, da ist zumindest bei mir noch ganz viel Spielraum nach oben.

Ich bin viel auf Bahnhöfen zu Hause. Stehe dort oft herum und warte auf die Bahn. Wer wartet, bietet offensichtlich eine gute Angriffsfläche für Fragen aller Art. Kommt ein junger Mann auf mich zu und bittet um Geld. Ganz automatisch schüttele ich den Kopf und sage, dass ich kein Geld habe. Stimmt natürlich nicht. Ich habe noch mindestens einen Euro und 50 Cent. Mehr wollte er auch nicht. Beide schauen wir uns an. Ich krame also doch nach meinem Portemonnaie, frage: Wofür? Das Geld fehle ihm für eine Fahrkarte nach Steele. Ich gebe ihm das Geld.

Gleich darauf kassiert er auch meinen Nachbarn ab, läuft weiter, schnorrt weiter. Und ich, ich bin genervt. Wieder einer, der mich angelogen hat, wieder einer, auf dessen treuen Augenaufschlag ich reingefallen bin. Mein Nachbar sieht es dagegen sportlicher: Ach, jede Woche eine gute Tat. Läuft doch für den jungen Mann. Und vielleicht gerät man selbst auch mal…

Ja, eben. Vielleicht gerät man auch mal… Daran hatte er mich erinnert: Matz und ich kamen aus der Türkei zurück. Wir waren hingetrampt und heil wieder zurückgekommen, die letzten Meter wollten wir mit dem Bus fahren und hatten kein Kleingeld. Nur meinen Not-Hunderter. Und der wurde vom Automaten nicht akzeptiert. Da haben wir auch geschnorrt und waren so dankbar, als eine junge Frau uns erlöste.

Aber wir hatten nicht gelogen! Ich war immer noch sauer. Mein Nachbar immer noch nicht: Eine gute Tat. Ich grinse schief und sage ihm, dass ich von guten Taten lebe. Was er von Beruf sei? –Ein IT’ler. Und Sie? Pfarrerin! Und da erwischt mich der Predigttext, den ich morgens gelesen hatte. Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer! Sagt Jesus. Und ich spüre: Da ist noch viel Luft nach oben bei mir. Was für ein Glück für mich, dass auch die schwarzen Schafe an der Krippe willkommen sind.

Friederike Seeliger