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Zum Holocaust-Gedenktag

Ich stand auf dem S-Bahnhof und wartete auf den Zug. Ein Stück entfernt von mir, ein Jugendlicher, 15 oder 16 Jahre alt. Er sprach mit einem Freund am Handy. Wortfetzen drangen an mein Ohr. Er begann zu schimpfen: „Die alte Judensau, wenn ich die erwische…“ Ich schaute unwillkürlich zu ihm hinüber. Was hatte er gesagt? Bevor ich reagieren konnte, kam der Zug und er war weg.

Die Äußerung ging mir noch einige Zeit nach: Weiß er, was er da gesagt hat? Ich vermute nicht. „Judensau“ benutzt er als eines seiner Schimpfworte. Gedankenlos, rücksichtslos daher gesagt, ohne ein Gefühl dafür, welche Auswirkungen das haben kann – vielleicht sogar auf jüdische Mitmenschen, die zufällig auch auf dem Bahnsteig stehen.

Vor einiger Zeit hörte ich im Radio, dass die Angst unter jüdischen Schülerinnen und Schülern zunimmt und sie nicht wissen, ob sie auf Dauer in Deutschland leben wollen und können. Ich finde das zutiefst erschreckend. Antisemitismus, oft in Verbindung mit Rechtsextremismus, direkt vor unserer Haustür. Nicht nur weit weg in Halle und Berlin, sondern auch bei uns in Essen. Steinwürfe auf die Alte Synagoge gleich zweimal im November letzten Jahres, antisemitische Äußerungen in rechtsextremistischen Kreisen bei uns in Steele.

Ermutigend und stärkend erlebe ich, dass ich viele Menschen kenne, die hinschauen und hinhören, die an das erinnern, was vor unserer Haustür geschehen ist und sich dafür einsetzen, dass so etwas nie wieder geschieht. Ich sehe täglich die Stolpersteine mit den Namen jüdischer Familien, eingelassen vor den Häusern, in denen sie wohnten, Erinnerung und Mahnung zugleich. Ich höre von Veranstaltungen in den Schulen, im Kulturzentrum Grend, in den Kirchengemeinden, nicht zuletzt sehe ich Menschen, die auf die Straße gehen und sich dafür einsetzen, dass Steele vielfältig und bunt bleibt.

Unvergesslich ist mir die Veranstaltung mit Esther Bejarano in unserer Friedenskirche am 8. März vergangenes Jahres. Sie hat ihre Eltern und ihre Schwester im Konzentrationslager verloren. Mit sehr bewegenden Worten, mit Liedern und ihrer Rap-Band Microphone Mafia erzählt sie von ihren schrecklichen Erlebnissen.

Sie sagt: „Ich habe mich daran gewöhnt, dass die Menschen von mir wissen wollen, was damals geschehen ist. Und ich sehe darin auch einen Sinn. Ich mache es nicht, weil ich meine Geschichte erzählen will, sondern damit diese Geschichte nie wieder passiert. Alle müssen unbedingt wissen, was damals geschah.“

Und mit Blick auf die nichtjüdischen Schülerinnen und Schüler fügt sie hinzu: „Ihr habt überhaupt keine Schuld an dem, was damals geschah, aber ihr macht euch schuldig, wenn ihr über diese Zeit nichts wissen wollt; darum bitte ich euch, hört gut zu und verinnerlicht das, was ihr hört.“

Sich erinnern, was war – wahrnehmen, was heute geschieht – sich einsetzen für die unverletzliche Würde eines jeden Menschen, jüdisch-christlich gesprochen für die Ebenbildlichkeit des Menschen – das ist unsere Aufgabe und unsere Verpflichtung.

Der 27. Januar wurde von den Vereinten Nationen 2005 zum Gedenktag für die Opfer des Holocaust erklärt. Heute vor 76 Jahren, am 27. Januar 1945, wurde das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau befreit.

Heiner Mausehund

4 Gedanken zu „Zum Holocaust-Gedenktag

  1. Danke für den Beitrag, der so nahe an dem nötigen Erinnern und so nahe an Steele ist. Er benennt die Stellen, die uns auch außerhalb des Auschwitz-Tages das Jahr über erinnern und uns wach halten können. Wir haben uns bei Esther Bejanaro in der Friedeskirche getroffen und dabei gemerkt, wie nahe wir uns in diesem Anliegen sind.

  2. Lieber Heiner,
    das ist ein wichtiger Beitrag zum Auschwitz-Tag. Danke! Ich wünsche mir manchmal mehr solche Erinnerung an unsere Geschichte, weil wir nur dann die Gegenwart richtig begreifen können.
    Der Kampf um Menschenwürde, die unteilbar ist, und die keine Grenzen kennt, ist eine der vornehmen und wichtigen Aufgaben unseres Glaubens. Das können wir auch tun, wenn weniger Geld zur Verfügung steht.

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