Liebe Gemeinde, heute, am 26. Oktober, nehmen wir Abschied von der Apostelkirche. Wir feiern einen letzten Gottesdienst. Und wir alle sind mit gemischten Gefühlen hier, ob als Glieder der Gemeinde, als Mitglieder des Presbyteriums, als Christ*innen oder als Bürger*innen dieses Stadtteils.
Manche erinnern sich an wichtige Gottesdienste in dieser Kirche und sind traurig, bei anderen überwiegen vielleicht Schuldgefühle, dass sie diesen Abschied in die Wege geleitet haben. Manche hier spüren heute weniger Aufbruch als Verlust. Bei wiederum anderen mischt sich Hoffnung hinein, neue Wege gehen zu können.
Ich für meinen Teil bin ja die Neue hier, noch. Seit letztem Jahr bin ich Pfarrerin in der Gemeinde, mit meiner Kollegin, Pfarrerin Alica Baron. Da seit Januar die Apostelkirche geschlossen ist, haben wir beide nur wenige Gottesdienste hier gefeiert. Vermutlich kennen Sie alle die Kirche sehr viel besser.
Deshalb war es für mich, für uns sehr schön, von Ihren Erinnerungen zu hören. Einige Geschichten haben wir auch gestern in der Andacht gehört: persönliche Momente hier in dieser Kirche, die als ein besonderer Ort erlebt wurde. Die Aufzeichnungen, die Robert Welzel für unser Erinnerungsbuch „Wenn Steine reden könnten…“ zusammengetragen hat, haben mir geholfen, die Geschichte und die Bedeutung der Kirche nachzuvollziehen und zu verstehen.
Die Anfänge
Heute nehmen wir Abschied von der Apostelkirche und gehen weiter. Und zum Abschiednehmen gehört dazu, zurückzublicken auf das, was gewesen ist. Die Geschichte der Apostelkirche begann vor über 112 Jahren, in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg: Damals, im Jahr 1913, war Frohnhausen ein Stadtteil im Aufbruch, ein Stadtteil voller Zukunft.
Überall entstanden neue Straßen, Arbeiterwohnungen, Marktplätze, Schulen.
Zwischen Ziegeln und Schornsteinen zog Leben ein: Krupp-Arbeiter, Bergleute, Familien aus allen Gegenden Deutschlands, Zuwanderer aus Europa. Sie kamen mit dem Wunsch, hier anzukommen, ein neues Zuhause zu finden. Frohnhausen war eben erst eingemeindet worden und der Stadtteil gehörte zur damaligen Kirchengemeinde Altendorf. Die Gesamtgemeinde zählte rund 50.000 evangelische Gemeindeglieder, von denen etwa 16.000 in Frohnhausen lebten.
Mitten in die Zeit des Aufbruchs hinein wuchs diese Kirche, mitten in Frohnhausen, als Teil des neuen Lebens. Der Stadtplaner Robert Schmidt wollte Essen „zur schönsten Stadt des Industriebezirks“ machen. Und der damalige Pfarrer Karl Lemmer war offen für diesen Plan. Damit brauchte Frohnhausen eine Kirche, die zu dieser neuen Zeit passte.
Der Architekt Ewald Wachenfeld entwarf eine Kirche, die in ihrer Schlichtheit und ihrem Sichtbeton fast schon provozierte. Ein Gruppenbau, wie man ihn nannte: unter einem Dach Kirche, Gemeindehaus, Räume für Kinder, Jugend, Vereine. Ein Ort, an dem der Glaube mitten im Leben stattfand. Damals brauchte man so viele Räume für all die kirchlichen Gruppen, die sich dort trafen, wie Frauenhilfe, Nähverein, Arbeiterverein, Evangelischer Bund.
Als die Kirche am 2. November 1913 eingeweiht wurde, nannte man sie bald die „trotzige Apostelkirche“. Nicht, weil sie gegen etwas war – sondern weil sie für etwas stand: für Zukunft, für Mut, für Glauben mitten in der Arbeitersiedlung. Zur Einweihung spielte ein Posaunenchor „Nun danket alle Gott“ und man hatte das Gefühl: hier fängt etwas Neues an. Beim Lesen in den Aufzeichnungen spürt man, mit wie viel Leben die Kirche hier gefüllt war vor 100 Jahren: Zwei Hauptgottesdienste, ein Kindergottesdienst an jedem Sonntag. Hunderte (!) Kinder kamen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg
Dann kam der Zweite Weltkrieg. Bombennächte, Sirenen, Feuer in Essen – auch die Apostelkirche blieb nicht verschont. Am Sonntag, 26. März 1944, wurde das gesamte Apostelzentrum mit Kirche und Pfarrhaus ein Opfer der Flammen. Der Turm wurde beschädigt, blieb aber stehen.
Nach 1945 lag Vieles in Trümmern, auch das kirchliche Leben. Die Gemeinde entschied sich für den Bau einer „Notkirche“ nach Plänen des Architekten Otto Bartning; eine weltweite Spendeninitiative finanzierte das Programm. Eine Holzkirche wurde gebaut, schlicht, warm, ein Raum des Trostes. Menschen, die alles verloren hatten, fanden hier wieder Boden unter den Füßen. Man feierte wieder Abendmahl…
Und doch wuchs die Idee: Wir möchten die Apostelkirche wieder aufbauen. Das ist etwas Besonderes. Viele Gemeinden entschlossen sich damals, ihre ursprünglichen, im Krieg zerstörten Kirchen nicht wieder zu errichten. Aber in Frohnhausen war das anders. Die Notkirche mit ihren 200 Plätzen war damals schlichtweg zu klein.
Also wurde die Apostelkirche wieder aufgebaut. 1958 – wieder am 2. November – wurde sie neu eingeweiht. Ein großer Raum, heller jetzt, mit großen Fenstern. Ein paar Jahre später wurde die Schuke-Orgel eingebaut, die ein breites musikalischen Leben ermöglichte. Viele Konzerte fanden hier statt und erfreuten die Menschen.
Und so gestaltete sich die Gemeindearbeit in der – jetzt – Evangelischen Kirchengemeinde Frohnhausen, mit der Apostelkirche als einem von drei Zentren. Und neben unserer Gemeinde fand auch die Lutherische Gebetsgemeinschaft in dieser Kirche ihr Zuhause.
Die Apostelkirche, biblisch
Die Apostelkirche — dieser Name war nie nur Etikett. Er ist Programm. Wenn eine Kirche so heißt, dann erinnert sie daran, wofür Kirche im Innersten steht: Apostel — das sind Gesandte. Menschen, die nicht bleiben, wo sie sind, sondern weitergehen im Vertrauen.
Im Johannesevangelium gibt es eine Szene zwischen Ostern und Pfingsten. Wir haben sie gerade gehört: Jesus ist schon auferstanden, aber die Jünger haben ihn noch gar nicht wahrhaftig gesehen. Sie sind in einem Raum versammelt, die Türen zu, und dann zeigt sich Jesus ihnen und sagt zu ihnen folgende Worte: Friede sei mit euch. Wie mich mein Vater gesandt habt, so sende ich euch.
Ich stelle mir vor, wie die Jünger diese Worte hören und denken: Was heißt hier Sendung? Wir sind doch die Jünger, wir folgen dir! Du bist wieder auferstanden, wir feiern doch gerade, dass das Leben siegt, dass die Dunkelheit gebrochen ist, die Angst vorbei ist. Jetzt kann es doch einfach so weitergehen wie früher. Jesus aber sagt diese Worte, weil er weiß, dass er, der Auferstandene, bald diese Erde verlassen wird, um hinaufzufahren in den Himmel.
Wie können die Jünger das aushalten? Die, die bisher einfach Jesus gefolgt sind. Die dabei waren, als er heilte, als er Menschen aufrichtete, als er ihnen sagte: Gott lässt euch nicht allein. Schuld hat nicht das letzte Wort. Keiner ist verloren. Gott nimmt alle an. Auferstehung ist möglich — mitten im Leben.
Jesus aber wiederholt nur seinen Satz noch einmal: Friede sei mit euch. Wie mich mein Vater gesandt hat, so sende ich euch. Es ist ein wenig so, als müssten die Jünger das zweimal hören.
In diesem Moment macht Jesus etwas Entscheidendes: Er ordnet seinen Abschied nicht als Ende ein, sondern als Übergabe. Er lässt die Jünger nicht im Leeren zurück. Er lässt sie in ihrer Angst nicht allein. Mit diesem einen Satz macht er klar: Was zwischen ihnen gewachsen ist, bricht nicht ab, nur weil er gehen muss. Was mit mir begonnen hat, geht über in eure Hände.
Damit traut er ihnen zu, dass sie es tragen können. Als wollte er sagen: Jetzt seid ihr dran. Was wir gemeinsam begonnen haben, endet nicht, weil ich nicht mehr sichtbar bei euch bin. Ich bleibe — vielleicht unsichtbar, aber gegenwärtig. Und darum: Macht euch auf den Weg. Damit die Botschaft in die Welt kommt.
Gebt weiter, dass Gott nahe ist.
Gebt weiter, dass Angst nicht das Ende ist.
Gebt weiter, dass der Tod nicht das Ende ist.
Und so öffnen sich die Türen. Das ist der Moment, in dem aus Jüngern Apostel werden – Gesandte, Träger dieser einen Botschaft, die tragfähig ist, gerade im Angesicht von Abschied und Verlust.
Heute – die Realität
Zum Abschiednehmen gehört auch die Aufgabe, den Dingen ehrlich in das Auge zu sehen: Zeiten ändern sich. Wir schreiben heute das Jahr 2025 und die Situation ist eine andere andere als im Jahr 1913 bzw. 1958. Wir sind heute deutlich weniger Gemeindeglieder – etwa 5.000. Wir haben als Gemeinde zu viele Gebäude für zu wenig Gemeindemitglieder – deswegen müssen wir uns von einigen Gebäuden trennen.
Und die Jahre der Nutzung forderten von der Apostelkirche ihren Tribut. Das haben Sie schon öfter gehört, das wissen Sie: Das Dach, die Heizung, die Infrastruktur – die Kosten dafür können wir als Gemeinde nicht länger tragen.
Und zugleich merken wir alle: So wie früher funktioniert Kirche nicht mehr. Nicht, weil sie schlecht geworden wäre – sondern weil die Welt sich weitergedreht hat. Es gibt weniger Schultern, weniger Geld, weniger Gewohnheit. Das heißt nicht: weniger Glauben, nur: der Glaube hat heute andere Formen, andere Orte, andere Stimmen.
Zu diesen Veränderungen gehört auch, dass wir bis 2028 mit drei unserer Nachbargemeinden (Rüttenscheid, Erlöserkirchengemeinde Holsterhausen, Altstadt) fusionieren werden – ein weiterer Schritt, der uns etwas abverlangt und zugleich die Chance birgt, dass wir nicht aus Mangel verstummen, sondern gemeinsam weiter taufen, trauen, trösten, feiern und die Liebe Gottes mitten in unsere Stadt bringen.
Die Entscheidung, die Apostelkirche aufzugeben, fiel dem Presbyterium unserer Kirchengemeinde schwer. Sich von einem Gotteshaus zu trennen, ist eigentlich eine undenkbare Aufgabe. Und doch glauben wir, dass es notwendig und auch gut ist. Diese Kirche hat ihre Zeit hier gehabt. Sie hat ihre Aufgabe als Heimat für die Menschen hier vor Ort erfüllt.
Es tut weh, das auszusprechen. Denn es ist ein Abschied von etwas Vertrautem.
Manche von uns hätten gerne an dem festgehalten, was bisher war. Und doch – ich glaube, zum Glauben gehört gerade das: loslassen können. Nicht aus Gleichgültigkeit, sondern aus Vertrauen.
Ein Ausblick
Veränderungen fallen uns nicht immer leicht. Heute müssen wir uns von Vertrautem verabschieden und spüren die Vergänglichkeit von Gebäuden und des Lebens – und doch versammeln wir uns wieder unter diesem Zuspruch: Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesendet hat, so sende ich euch.
Und so gehen wir heute nicht als eine Gemeinde, die mit leeren Händen dasteht, aus dieser Kirche. Wir gehen als Menschen, die in einer langen Geschichte stehen von Verlust und Abschied – und gleichzeitig Neubeginn.
Die Apostel haben sich von Jesus verabschieden müssen – und sich auf den Weg gemacht. Das aber war nicht das Ende der Kirche, sondern ihr Anfang. Ist es nicht das, was unsere tiefste christlichste Hoffnung ist, zu unserer „DNA“ gehört? Unser Glaube kann Verlust aushalten — und aus Verlust entsteht wieder Neues. Nach Dunkelheit wieder Licht. Ein goldener Horizont. Auferstehung.
Und so gehen wir heute weiter – als Gesandte, ja, als Gesegnete, um diese Botschaft in die Welt zu bringen. Wir verlieren ein Gotteshaus, aber nicht den Glauben, nicht die Geschichten, die wir mit der Apostelkirche verbinden. Glaube findet Wege – auch jenseits dieser Mauern. Und in Mosaiksteinen findet er sie schon jetzt:
Wenn wir mit der AWO einen Mittagstisch decken und dem Stadtteil Wärme und Würde geben. Wenn unsere Konfis mit anderen Konfis unterwegs sind und Kirche gemeinsam wachsen lässt. Wenn im Café Forum und im Café Glockenturm Begegnung entsteht und Menschen einen Ort finden. Wenn die Bläser*innen den Klang des Evangeliums nach draußen tragen. Wenn wir auf dem Frohnhauser Markt stehen und die Menschen selbst zu Wort kommen lassen: Was braucht Frohnhausen? Wenn mit Eltern eine neue Form von Familienkirche entsteht, weil der Glaube mit dem Leben weitergeht.
Wenn wir so zeigen: Die Gemeinde lebt! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. Diese Botschaft bleibt. Dieser Auftrag bleibt. Also – machen wir uns auf den Weg, hinaus in die Welt. Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
Valeria Danckwerth
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Predigt, gehalten anlässlich der Entwidmung der Apostelkirche der Evangelischen Kirchengemeinde Essen-Frohnhausen am 26. Oktober 2025.