Schon unmittelbar nach Kriegsende, am 13. Mai 1945, tagte in Essen die Kreissynode der Essener evangelischen Kirchengemeinden. Es war vermutlich die erste Versammlung einer evangelischen Synode in Deutschland nach Ende der Naziherrschaft. Am 27. April 1945, also noch vor der endgültigen Kapitulation des Deutschen Reiches, wurden die Kirchengemeinden zu dieser Synode eingeladen.
Die Pfarrer und Abgeordneten der Presbyterien wurden für Sonntag, den 13. Mai 1945, 13.00 Uhr, ins Ernst-Moritz-Arndt-Haus in Essen-Rüttenscheid zusammengerufen. Die Leitungsgremien des Kirchenkreises und des Gesamtverbandes der Essener Kirchengemeinden sowie die Abgeordneten zur Rheinprovinzsynode sollten neu gewählt werden. Man wollte so schnell wie nur möglich die Zeit des Nationalsozialismus hinter sich lassen und sich von den im NS-Staat in der Kirche herrschenden „Deutschen Christen“ trennen.
In Essen hatte diese Kirchenpartei zwar keine Mehrheit. Essen war neben Wuppertal ein Zentrum der Bekennenden Kirche im Rheinland. Nur fünf ständige Pfarrer bekannten sich zu den DC. Aber in der Praxis blieben auch die meisten Essener Gemeinden schweigende, sich den Verhältnissen anpassende Gemeinden. Die deutschchristlichen preußischen Kirchenbehörden hatten auch im widerständigen evangelischen Essen das Heft in der Hand behalten.
Unterschrieben hatte die Einladung zur Rüttenscheider Synode der Altendorfer Pfarrer „Superintendent“ Lemmer; die Bekenntnispfarrer aber nannten den vom deutschchristlichen Konsistorium bestimmten Superintendenten bewusst weiterhin „Synodalassessor“, weil er nur als solcher 1932 von der letzten freien Synode gewählt worden war.
Einladung ging von Pfarrern der Bekennenden Kirche aus
Natürlich war die Einladung zur Synode von den führenden Pfarrern der Bekennenden Kirche, Held, Böttcher und Badt, veranlasst worden. Wie selbstverständlich entsandten darum die Kirchengemeinden zu dieser ersten freien Synode nach Kriegsende keinen Presbyter mehr, der der „Glaubensbewegung Deutsche Christen“ angehört hatte.
95 Pfarrer und Presbyter vertraten auf dieser ersten Synode nach Kriegsende die damals 14 Essener Evangelischen Kirchengemeinden. Nur ein deutschchristlicher Pfarrer erschien zur Synode; die anderen waren entweder von ihren Presbyterien schon beurlaubt worden oder ließen sich krankheitshalber entschuldigen. Beim Aufruf der Namen zu Beginn der Synode wurde der deutschchristliche Pfarrer Dungs aus Essen-Kupferdreh „aufgrund seines unkirchlichen Verhaltens und seiner Lehre“ von der Synode ausgeschlossen.
Einstimmig wurde der Rüttenscheider Pfarrer Heinrich Held zum Superintendenten des Kirchenkreises Essen gewählt. Held hatte sich als Schriftführer der Bekennenden Kirche im Rheinland und Herausgeber der illegalen „Grünen Briefe“, die wesentlich zum Zusammenhalt der Bekennenden Kirche beigetragen hatten, bewährt.
Pfarrer Johannes Böttcher, Essen- Altstadt, als Vertrauensmann der BK der geheime Superintendent während der Nazizeit, wurde zum Synodalassessor, Pfarrer Rudolf Badt, Essen-Altstadt, der im Gesamtverband der Essener Kirchengemeinden umsichtig dafür gesorgt hatte, dass auch die Bekennenden Gemeinden in Essen mit Finanzmitteln ausgestattet wurden, wurde zum Skriba gewählt. Unter den drei Synodalältesten, die die Synode berief, finden wir an erster Stelle den Namen Gustav Heinemann.
Noch während der Synodaltagung wurde Heinrich Held in das Amt des Superintendenten eingeführt. Die Synode praktizierte kirchliches Notrecht: „Da die Synode elf Jahre lang ohne von ihr gewählte und mit ihrem Vertrauen ausgestattete christliche Leitung gewesen ist, hält sie es auf Vorschlag von Pfarrer Badt einstimmig für geboten, den zum Superintendenten gewählten Pfarrer Held schon in dieser Sitzung in sein Amt einzuführen“, heißt es im Protokoll.
Unmittelbar nach seiner Wahl zum Essener Superintendenten wurde Held als Oberkirchenrat in die vorläufige Kirchenleitung nach Düsseldorf berufen. Bis 1948 nahm er diese Doppelfunktion wahr. Nach Verabschiedung der Kirchenordnung der Evangelischen Kirche im Rheinland wählte ihn die Landessynode zum ersten Präses dieser nun selbständigen evangelischen Landeskirche.)
Sorgen der Gegenwart drängen sich in den Vordergrund
Unter dem Tagesordnungspunkt „Verschiedenes“ wurde noch Folgendes verhandelt: „Synode überweist dem Kreissynodalvorstand einen Antrag von Pfarrer Neuse/Haarzopf betr. Verhandlungen mit der Militärbehörde über die Notwendigkeit der Sonntagsheiligung; ebenfalls einen Antrag von Pfarrer Nell/Altstadt über den notwendigen Schutz der Bevölkerung gegen die Plünderungen der Ostarbeiter.
Des Weiteren wird ein Antrag des Synodalen Wittstruck auf baldige Wiedereinführung von Rundfunkgottesdiensten und Herausgabe von Sonntagsblättern dem Synodalvorstand überwiesen. Pfarrer Lic. Löwe bittet den Synodalvorstand, die Angelegenheiten des evangelischen Lyzeums Maria-Wächtler-Schule im Auge zu behalten… Auf Antrag von Pfarrer Hänzsch/Katernberg wird festgestellt, daß die von den ,Deutschen Christen nationalkirchliche Einigung e.V.‘ vollzogenen Taufen nicht als christliche Taufen anzusehen sind. Pfarrer Löber/Altendorferinnert an die Pfarrtöchterstiftung…“
Die Evangelische Kirche in Essen kehrte zu ihren synodalen Verfahrensweisen zurück, als habe es das Dritte Reich nicht gegeben. Die schnelle Wiederherstellung der rechtmäßigen alten Ordnung erschien vordringlich. Die Kirche sollte wieder handlungsfähig sein. Man meinte, das geistlich, moralisch und materiell geschundene Volk brauche die evangelische Kirche als Fürsprecherin.
Von einem Bekenntnis der Schuld, wie es dann im Herbst 1945 der Deutschen Evangelischen Kirche von der Ökumene abgerungen wurde, ist in dem Synodalprotokoll nichts zu spüren. Auch nach dem Kriegsende schwieg die evangelische Kirche zu Unrecht, Gewalt, Judenvernichtung, Konzentrationslagern und deutschen Kriegsverbrechen. Die Sorgen der Gegenwart drängten sich in den Vordergrund.
Heinrich Held: Benennung des Unrechts, aber…
Immerhin spricht der neugewählte Superintendent Heinrich Held in seiner die Synode abschließenden Predigt über Sacharja 12,10-13 das Versagen der evangelischen Christen gegenüber nationalsozialistischem Unrecht einigermaßen konkret an (den Zugang zu dieser Predigt, die nicht ins Synodalprotokoll aufgenommen wurde, verdanke ich Pfarrer i.R. Dr. Witschke, Bonn). Der für diesen Anlass ausgewählte Bibeltext ist ein Prophetenwort an ein schuldig gewordenes Volk:
Und über das Haus David und über die Bewohner Jerusalems will ich ausgießen den Geist der Gnade und des Gebets; und sie werden ansehen, welchen sie durchstochen haben, und werden um ihn klagen, wie man klagt um das einzige Kind … Zu der Zeit wird das Haus David und die Bürger zu Jerusalem einen freien, offenen Born haben wider die Sünde und Unreinigkeit. (Bibeltext gemäß Predigtabschrift.)
Die sich nahelegende Auslegung, bei den Worten „welchen sie durchstochen haben“ an die Opfer zu denken, um die man nun klagen und trauern muss, finden wir bei Held nicht. Held deutet dieses Sprachbild christologisch auf den Gekreuzigten aus. Held beginnt seine Predigt:
„Mit demütigem Dank werden wir in dieser Stunde der Treue und Geduld unseres Gottes inne … Und in diese Stunde hinein hallt das ganze Schwergewicht des staatlichen und politischen Zusammenbruchs unseres geliebten Volkes … Wenn wir hier zusammen sind um mit Gebet unter Gottes Wort zu fragen nach dem, was wir tun sollen, dann ist das ja keine theoretische Frage. Uns bedrängt die Not, ob es nicht zu spät ist nach solchen Niederlagen, nach solcher Ohnmacht, nach solcher Schuld.“
Nach weiteren Ausführungen wird Held in einem kurzen Abschnitt konkreter:
„Haben wir nicht oft geschwiegen, wo wir hätten reden müssen! Und jetzt reden die stummen Gräber und die aufgetanen Lager und die da entronnen sind! … Hätten wir nicht reden müssen, als den Menschen, die einer anderen Rasse angehören, das geschah, was ihnen geschehen? Haben wir nicht mit viel Weh und mit viel Herzenstraurigkeit es an uns erlebt, dass wir stumm geblieben sind in Angst und Furcht?
Und über all der Vernichtung lebensunwerten Lebens und all der Zerrüttung elterlicher … Autorität und … der bürgerlichen Ehrbarkeit, auch in Dingen der Ehe – wie sind wir gedemütigt worden, daß wir es nicht vermocht haben, das Licht der göttlichen Wahrheit auf den Leuchter zustellen … Siehe da, es ist ein großes Geschenk, wenn indieser Stunde der Geist der Gnade dieser Selbsterkenntnis bei uns ist.“
Es wäre jetzt viel dazu zu sagen, in welcher verbrämten Sprache Held die Gräueltaten der zurückliegenden Jahre anspricht und sie in einem Atemzug mit der Zerrüttung bürgerlicher Werte nennt. Aber immerhin, sie wurden nicht ganz verschwiegen. Vielleicht konnte man damals auch nicht anders reden. Aber für den Gesamtduktus der Predigt dient nach meinem Eindruck der Abschnitt über das NS-Unrecht und über das Schweigen der Kirche nur als dunkle Folie, um die Notwendigkeit einer institutionellen Erneuerung der Kirche einsichtig zu machen.
Die schweigende Mehrheit
Bekennende Kirche und die schweigende Mehrheit der Gemeinden wurden durch Held in der Buße zusammengeschlossen, um sie für den gemeinsamen volkskirchlichen Neuanfang zu öffnen. Der Stratege Held wusste: Nach der Ausgrenzung der Deutschen Christen ließen sich längst nicht alle Gemeinden auf den Weg der Bekennenden Kirche einschwören. Eine neue innere Spaltung der Evangelischen Kirche musste aber auf alle Fälle vermieden werden. In dieser Richtung legte Held in seiner Synodalpredigt den alttestamentlichen Sacharja-Text für seine Essener Kirche seelsorgerlich und Mut machend aus.
Fazit: Die erste Essener Kreissynode nach dem Zweiten Weltkrieg fand keine Zeit, vom Grundsatz her über die Situation des deutschen Volkes nachzudenken und ein richtungweisendes Wort für die verstörte, aufgewühlte Essener Bevölkerung zu finden. Es ging ihr um die Wiederherstellung einer rechtmäßigen, dem Bekenntnis verpflichteten kirchlichen Ordnung und um die Wiedererrichtung einer theologisch erneuerten Volkskirche.
Das Wort eines Zeitzeugen, das Wort des für die Aufarbeitung der Essener Geschichte so verdienstvollen Historikers Ernst Schmidt, möchte ich abschließend an Sie weitergeben. Ernst Schmidt, der Sohn eines Presbyters aus Borbeck, blickte in einem Gespräch zurück auf seine Rückkehr aus dem Krieg nach Essen. Als schwer verwundeter junger Mann hatte er sich erwartungsvoll unter die Kanzel eines Bekenntnispfarrers gesetzt:
„Ich kam aus einem Inferno. Ich hörte die alten Worte, als hätte sich in dieser Zeit nichts Grundlegendes ereignet. Ich hörte kein Wort zum Krieg und seinen Verbrechen, kein Wort über den Missbrauch einer ganzen Generation für verbrecherische Ziele, kein Wort über das Versagen der Kirchen. Ich bin danach einen anderen, politischen Weg gegangen ohne die Kirche meiner Jugend.“
Heinrich Gehring
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Bei diesem Text handelt es sich um den dritten und letzten Teil eines Vortrags, den der frühere Essener Stadtsuperintendent und Superintendent i.R. des Kirchenkreises Essen-Nord, Heinrich Gehring, am 14. April 2015 in der Marktkirche gehalten hat, und den wir hier abdrucken dürfen.
Der erste Teil handelt von den Wochen und Monaten bis zur Einkesselung des Ruhrgebiets und wurde am 5. Mai 2025 veröffentlicht.
Der zweite Teil befasste sich mit dem Zeitraum von der Einkesselung des Ruhrgebiets über die letzten Kriegstage und das Ende der Kampfhandlungen in Essen am 11. April 1945 bis zu den ersten Tagen unter der Militärregierung und erschien am 6. Mai 2025.
Hochinteressant für einen aus Berlin.Heiner, ich danke Dir sehr.Dein Eckhard aus Heisingen.