Begonnen hatte die Einkesselung des Ruhrgebietes mit den beiden Rheinübergängen der amerikanischen, bzw. amerikanisch britischen Armeen: am 9. März in Remagen und am 24. März mit der verlustreichreichen Luftlandeoperation der 17. Airbone Division bei Wesel. Das Ruhrgebiet sollte nun vom Süden und vom Westen her im Norden eingekesselt werden.
Mit dem Vorrücken der Alliierten stand Essen nun auch unter dem ständigen Beschuss durch Feldartillerie. Am 1. April lag die Kampflinie der von Münster über Dorsten vorrückenden Amerikaner am Rhein-Herne-Kanal im Norden von Essen. Karnap war also schon in amerikanischer Hand. Der Ruhrkessel war nun endgültig abgeriegelt.
In einem Tagesbefehl von General Eisenhower vom 3. April heißt es: „Die Einkreisung des Ruhrgebietes durch eine umfassende Zangenbewegung hat die ganze Armeegruppe B und Teile der Armeegruppe H von ihren Verbindungen abgeschlossen. Auf diese Weise bilden die feindlichen Truppen nur noch eine Tasche (‚pocket‘), deren Schicksal bereits feststeht. Das lebenswichtige Ruhrgebiet ist damit für das deutsche Kriegspotential verloren. Die große Waffentat … wird in der Kriegsgeschichte als Schlacht um die Ruhr weiterleben.“
In diesem „pocket“-Kessel herrschte auf deutscher Seite ein militärisches Chaos. In einer Tagebucheintragung heiß es: „Es herrscht ein tolles Durcheinander hier, Soldaten in kleinen Trupps trotten über die Straßen, in kleinen Trupps, müde, ohne Ordnung, ohne Waffen. Offiziere sieht man nicht. Die Straßen sind von deutschen und ausländischen Flüchtlingen verstopft. Viele gehen auf der Landstraße elend zugrunde.“
In völliger Verkennung der Lage kamen von Berlin die Durchhalte- und Terrorbefehle, die die Zeitungen, soweit sie noch erscheinen konnten, Anfang April abdruckten. So einen Himmler-Befehl: „Gegen Heraushängen weißer Tücher, … das Nichtantreten zum Volkssturm und ähnlichen Erscheinungen ist mit allen Mitteln durchzugreifen. Aus einem Haus, aus dem eine weiße Fahne erscheint, sind alle männlichen Personen zu erschießen.“ – „Jede Stadt und jedes Dorf werden mit allen Mitteln verteidigt und gehalten“. Wer dagegen verstoße, müsse „Ehre und Leben“ verlieren.
Terror bis zuletzt – Hinrichtung wegen Fahnenflucht
Kurz vor dem Einrücken der Amerikaner, noch am 7. April 1945, wurden zwei 17-Jährige und ein 21-Jähriger aus Borbeck standrechtlich wegen Fahnenflucht erschossen. Die Borbecker Freunde Helmut Hawes, Johann Hansjosten und Hans van der Mee hatten gemeinsam bis zum 1.April Heimaturlaub bekommen.
Als Mutter Hawes sich 30. März einem Räumungstreck anschloss, beschlossen die Jugendlichen, in der Wohnung im Hesselbruch zu bleiben und angesichts der ausweglosen Situation nicht mehr zu ihren Einheiten zurückzukehren. Ein Nachbar zeigte die drei am 4. April bei der Polizeiwache an. Sie ließen sich widerstandslos festnehmen, wurden dem Militär im Schloss Borbeck überstellt und zu einem Standgericht nach Essen-Werden in einen Bauernhof an der heutigen Maasstraße in Fischlaken gebracht.
Dort wurden sie am 6. April – an diesem Tag, dem 18. Geburtstag von Helmut Hawes, nahmen die Amerikaner die Stadtteile Altenessen, Katernberg und Dellwig im Essener Norden ein – durch einen Oberstabsarzt Dr. Falk zum Tode wegen „Fahnenflucht“ verurteilt und am Morgen des 7. April, an Holzpfähle gebunden, erschossen. Sie sollen zuletzt nach ihren Müttern gerufen haben. Ein Altbauer, der auch nicht mehr in den Krieg wollte und sich versteckt hatte, berichtete später: „Zwar war ich nicht dabei, aber man sagte mir, dass einige Anwohner gemurrt hätten, als sie sahen, was geschehen sollte“ (Ernst Schmidt, Lichter in der Finsternis, Band 2, S. 267f.)
Später, am 24. Mai 1945 fand man die drei verscharrten Leichen. Ich habe als junger Pastor in Borbeck die Mutter eines der Hingerichteten, Frau Hawes, noch kennengelernt – eine gebrochene Frau, die kurz vor dem Kriegsende am 8. Mai auch noch ihren zweiten, älteren Sohn verloren hatte.
Essen wird eingenommen
Am 9. April überschritten amerikanische Truppen auf breiter Front den Rhein-Herne-Kanal. Von versprengten Soldatengruppen, SS und Volkssturm gab es nur noch vereinzelt Widerstand. Die Überlegenheit der amerikanischen Truppen zeigte sich an der Möglichkeit, jederzeit über Funk Luftunterstützung anzufordern. Jagdbomber brachten jede noch aktive Stellung deutscher Kräfte sofort zum Schweigen. Die Deutschen hatten den anrückenden Amerikanern nichts mehr entgegenzusetzen.
Am 11. April schrieb ein Bürger aus dem Essener Norden in sein Tagebuch: „Verschiedene Granaten landen auf dem Bahndamm. In der Bocholterstr. gibt es ein paar Tote … und nun sehe ich, daß auf dem kleinen Häuschen uns gegenüber mehrere weiße Fahnen flattern. Jawohl! Jetzt entlädt sich die Spannung, in der ich die ganze Zeit mich befunden … Und hier erfährt man in aller Deutlichkeit, wie wir den OKW- Bericht zu bewerten haben. Schwere Straßenkämpfe in Essen. Dabei fällt kein Schuss. Welch ein Glück!…“ Ein strahlender, nachösterlicher Frühling lag über Essen.
Dass der Führer der Heeresgruppe B, Generalfeldmarschall Model, die kampflose Übergabe der Städte Bochum, Gelsenkirchen und Essen angeordnet habe, um die Bevölkerung zu schonen, gehört zu den Nachkriegslegenden. Die Reste der Heeresgruppe B wurden noch unter Anwendung des Prinzips der verbrannten Erde für die sinnlose Verteidigung von Düsseldorf, Wuppertal und dem Bergischen Land eingesetzt. Anfang Mai beging der fanatische Nazi Model Selbstmord.
Schon am 10. April fuhren amerikanische Autos unbehelligt durch die Stadt. Am 11. April wurde die Innenstadt von Essen widerstandslos von Einheiten der 17. Airbone- Division eingenommen besetzt. Der NS-Oberbürgermeister Just Dillgardt übergab im Bredeneyer Rathaus förmlich die Stadt an die Siegermacht. Am selben Tag rückten Einheiten der 79. US-lnfantry Division von Osten durch das Ruhrtal in den Essener Süden vor. Soldaten des 113. Infantry Regiments dieser Division nahmen Alfried Krupp von Bohlen und Halbach in der Villa Hügel fest. (254)
Tag der Befreiung
Lange war der 11. April 1945 für die meisten Essener ein Tag der Niederlage. Robert Jahn („Essener Geschichte“) schreibt im Jahr 1957:,“…die nachrückende Feldtruppe trat vielfach als siegreicher Feind auf und plünderte und raubte unbedenklich nach altem Kriegsrecht. Französische Zwangsarbeiter zogen in diesen Tagen, da der Atem der Stadt stockte, in guter Haltung mit aufgeschnalltem Rucksack ab. Ostarbeiter liefen zum Teil im Sonntagsstaat feiertäglich herum, andere rotteten sich zusammen und begaben sich ans Plündern.“
Auf dem Hintergrund des menschenmorden NS-Regimes und seiner Ideologie, auf dem Hintergrund des verbrecherisch und erbarmungslos geführten deutschen Krieges, auf dem Hintergrund der unmenschlichen Geschehnisse in unserer Stadt kann der 11. April 1945 für uns Essener heute nur als ein Tag der Befreiung gelten.
Unter Militärregierung
Schon am 11. April hingen im und am zerstörten Essener Rathaus zweisprachige Plakate der „Militärregierung Deutschland“ aus. Die NSDAP wurde für aufgelöst, die nationalsozialistische Verfassung des Deutschen Reiches wurde für ungültig erklärt. Deutsche durften sich nur in der Zeit von 6 bis 19 Uhr auf den Straßen aufhalten. Nationalsozialistische Hoheitszeichen und Straßennamen mussten verschwinden.
Essen stand als Teil der besetzten Zone bis zur Ablösung durch den britischen Feldmarschall Montgomery Ende Mai 1945 unter dem Befehl des amerikanischen Kommandeurs Edson D. Raff. Als kommissarischer Oberbürgermeister wurde Dr. Dieter Russel eingesetzt. Eine seiner ersten Aufgaben: Auf Anforderung, aber auch mit Hilfe der Besatzungsbehörde mussten ehemalige Zwangsarbeiter, die in den letzten Wochen keine Essensrationen mehr bekommen hatten, vorrangig mit Lebensmitteln versorgt werden.
Am Pfingstsonntag, 20. Mai 1945, wurde Dr. Hugo Rosendahl als erster Nachkriegs-Oberbürgermeister von der Militärregierung eingesetzt. Sein Wort an die Essener: ,“In der Hoffnung und im Vertrauen, daß alle, die guten Willens sind, mitarbeiten werden, wollen wir ans Werk, gehen. Wiedergutmachung und Wiederaufbau sind das gemeinsame Ziel.“
Im Februar 1946 wurde Heinz Renner Oberbürgermeister und Rosendahl wechselte – gemäß der britischen Gemeindeverfassung – in das Amt des Oberstadtdirektors. Nach der ersten freien Wahl in Essen im Oktober 1946 wurde schließlich Gustav Heinemann Oberbürgermeister.
Am 30. April 1945 wurde die zu einer Konferenz mit der amerikanischen Besatzungsbehörde im Deutschlandhaus versammelte Stadtverwaltung (ca. 40 Personen) vom amerikanischen Kommandeur Raff und seinem Stab bei ihren Beratungen abrupt unterbrochen und auf Lastwagen zum „Montagsloch“ gefahren. Zusammen mit anderen unterwegs aufgegriffenen Deutschen mussten sie die nun aufgefundenen Leichen von 34 russischen Kriegsgefangenen bergen, unter Anleitung einer Armeegeistlichen vor den vorbereiteten Gräbern zum Gebet niederknien und die Leichen dann in die Gräber legen und zuschaufeln.
Am 8. Mai 1945, dem Tag der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches und des NS-Staates ragte die große Synagoge in Essen an der Steeler Straße unübersehbar und symbolträchtig aus der Essener Trümmerwüst hervor. Der Bau hatte den organisierten Synagogenbrand vom 8./9. November 1938 äußerlich unversehrt überstanden und konnte wegen seiner massiven Bauweise mitten in der Stadt von den Nazis nicht gesprengt werden.
Während des Krieges hatte die Stadt die untere Wochentags-Synagoge zu einem Luftschutzkeller ausgebaut. So bot die geschändete Synagoge der umliegenden Wohnbevölkerung Schutz. Sie hat als einziges Gebäude in der Innenstadt den Bombardierungen äußerlich unversehrt standgehalten und Hitlers „Tausendjähriges Reich“ überdauert. Ein zwiespältiges Symbol, das dazu verleitete, über die Vernichtung der Essener Juden – mehr als 2.500 von ihnen wurden ermordet – gar nicht mehr zu reden. Bis 1959 stand die Synagoge, im Inneren verwüstet, ungenutzt da.
Heinrich Gehring
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Bei diesem Text handelt es sich um den zweiten Teil eines Vortrags, den der frühere Essener Stadtsuperintendent und Superintendent i.R. des Kirchenkreises Essen-Nord, Heinrich Gehring, am 14. April 2015 in der Marktkirche gehalten hat, und den wir hier abdrucken dürfen.
Der erste Teil befasste sich mit dem Zeitraum bis zur Einkesselung des Ruhrgebiets und erschien am 5. Mai 2025.
Der dritte und letzte Teil berichtet über die erste Essener Kreissynode nach Ende des Zweiten Weltkriegs, die bereits am 13. Mai 1945 in Rüttenscheid zusammentrat, und erscheint am 7. Mai 2025.