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Die Perspektive wechseln

Du bist ein Gott, der mich sieht. (1. Mose 16,13 – Jahreslosung für 2023)

Menschen sehnen sich danach, gesehen, wahrgenommen, respektiert zu werden. Menschen sehnen sich nach Ansehen. Gerade in der digitalen Welt stellt man sich gern zur Schau. Man twittert seine spontanen Gedanken in die Welt hinaus, versendet Selfies, postet Videos. Die Botschaft ist immer die gleiche: Nimm mich wahr, respektiere mich, sieh mich an. „Video“ ist lateinisch und heißt bezeichnender Weise: „Ich sehe.“

Wir brauchen die anderen. Unsere Identität hängt daran. Der Philosoph Martin Buber hat das einmal so ausgedrückt: „Der Mensch wird am Du zum Ich. Alles wirkliche Leben ist Begegnung.“ Für den Menschen ist es also lebensnotwendig, dass jemand ihm gegenübersteht, ihn ansieht, mit ihm redet, ihn anerkennt, sonst verliert er sich selbst. Völlig bindungslos kann der Mensch nicht leben.

Gott sieht Hagar, die Magd Sarahs aus der Abraham-Geschichte, in der Wüste ihres Lebens ziellos umherirren und tritt mit ihr in Beziehung. Er redet mit ihr, schaut sie an. Denn Gott ist einer, der hinsieht – der Gott, der mich anschaut. Gott sieht den bedürftigen Menschen hinter den Fassaden seiner Selbstdarstellung. Gott sieht, wie es um mich steht. Gott sieht mich, so wie ich bin. „Du bist ein Gott, der mich ansieht.“ Ich sehe Dich, in Deiner Not! Ich sehe Dich in deiner Einsamkeit! Ich sehe Dich in Deiner Trauer. Ich sehe Dich mit Deinem Lebensmut und Deiner Fröhlichkeit! Gott sieht uns an, so wie wir sind, und damit gibt er uns Ansehen und Würde, die unabhängig ist von dem, was wir oder andere aus uns machen.

Zugegeben, es gibt Situationen, die lassen uns an Gottes gütigem Blick zweifeln. Wenn man erlebt, wie würdelos Menschen miteinander umgehen, aufeinander herabblicken. Sieht Gott nicht die Bilder von Gewalt und Zerstörung in der Ukraine und überall dort in der Welt, wo Krieg herrscht? Wie kann Gott hier zuschauen? Sieht er überhaupt, was passiert? Wenn Gott wirklich der wäre, der mich sieht, dann müsste sich doch etwas ändern am Lauf der Welt.

Vielleicht sollten wir einmal die Blickrichtung, die Perspektive Gottes einnehmen. Gott hinterherschauen. Einfach mal von seiner Warte aus die Welt anschauen. Aus dieser Blickrichtung gibt es allerhand zu sehen. Wir können unsere Mitmenschen neu sehen lernen. Die Blickrichtung Gottes einzunehmen, das bringt auch einen neuen Blick auf Menschen anderer Religionen.

Hagar, die von Gott gesehen und gewürdigt wird, ist eine Heidin. Sie gilt als Stammmutter der arabischen Welt. Ich finde, das sollte uns zu denken geben. Gott hat offenbar auch die Menschen anderer Religionen im Blick. Er will deren Glück genauso wie unser Heil. Das eröffnet ganz neue Perspektiven, zum Beispiel für den Umgang mit den Nachfahren der Hagar, die heutzutage nach Deutschland kommen und mittlerweile hier als Muslime leben.

Klar, so ein unvoreingenommener Blick ist nicht immer leicht. Wir können Gottes Blickrichtung einnehmen, aber mit seinen Augen können wir nicht sehen. Unsere Sichtweise ist begrenzt. Wo Gott das Ganze im Blick hat, machen wir Unterschiede. Wo Gott das Verbindende sieht, sehen wir Grenzen. Wo er großzügig austeilt, haben wir Angst, zu kurz zu kommen.

Der Wechsel der Perspektive wird uns nur gelingen, wenn wir es machen wie der alte Mann in folgender Anekdote: Ein alter Bauer saß gern in der Kirche, auch wochentags saß er da, immer in der letzten Bank. Eines Tages fragte ihn der Küster, was er eigentlich mache, wenn er so dasitze: „Worauf warten Sie?“ Der Bauer deutete aufs Kreuz und sagte: „Ich schaue ihn an; und er schaut mich an.“

Es kommt darauf an, dass wir Gott ansehen, wie er uns ansieht. Dass wir die Sorge um unser Ansehen ihm überlassen. Vielleicht gelingt es uns dann, uns selbst und die anderen anzusehen, so wie er das tut. Wir werden sehen!

Werner Sonnenberg