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Die Richtung bleibt

Öffne deinen Mund für den Stummen, für das Recht aller Schwachen! (Sprüche 31,8)

Was für ein diakonischer Spruch – der Monatsspruch für diesen Monat Mai aus dem biblischen Buch der Sprüche. Das trifft doch voll das Selbstverständnis vieler, die sich in Kirche und Diakonie engagieren. Dabei ist es egal, ob sie das beruflich oder ehrenamtlich tun. Entsprechend wird in der Konzeption unseres Essener Kirchenkreises schon in der Präambel betont: advocacy oder Anwaltschaft ist ein grundlegendes Ziel unseres Handelns. Denn, so die Begründung: „In [Jesus Christus] ist deutlich, dass Gottes Nähe und Zuwendung besonders den Entrechteten und Hilfsbedürftigen gilt. Ihnen zur Seite zu stehen ist Gottes besonderer Auftrag an uns.“

Im alten Leitbild für das Diakoniewerks, vielleicht erinnern sich einige noch daran, wurde auch ausdrücklich auf das anwaltschaftliche Handeln der Diakonie Bezug genommen. Da hieß es: „In der Situation der Benachteiligung und Hilfsbedürftigkeit von Menschen liegt der Auftrag begründet, die Anwaltsfunktion im sozialpolitischen Raum auf regionaler und überregionaler Ebene wahrzunehmen.“ Im neuen und aktuellen Leitbild wurde in den letzten beiden Leitsätzen kürzer und vorsichtiger formuliert: „Wir beteiligen uns an der Willensbildung zu sozialen Fragen. Wir leisten unseren Beitrag zu einer gerechten, solidarischen und inklusiven Gesellschaft.“

Die Richtung ist gleichgeblieben. Das Engagement Gottes für die Benachteiligten und Armen wird in der Bibel immer wieder mit anwaltschaftlichen Funktionen beschrieben. Es geht um das Beistehen, das Verteidigen, das Fürsprechen und Vertreten dessen, der oder die das allein, insbesondere vor Gericht, nicht kann. Es schließt die Aufgabe ein, über den Einzelfall hinaus soziale Verhältnisse in der Perspektive christlicher Liebe immer wieder zu überprüfen: Hindern die Verhältnisse die Menschen in elementarer Weise an der Entfaltung ihrer Lebensmöglichkeiten? Die konkreten Bedürfnisse Benachteiligter drängen auf die Verbesserung der Verhältnisse, so dass jeder Mensch entsprechend der Würde leben kann, „mit der Gott jeden Menschen in seiner Einzigartigkeit ausstattet“, um noch einmal unser Leitbild zu zitieren.

Soziale Arbeit geht im heutigen professionellen Verständnis von dieser theoretischen Grundlage aus. Strukturelle Ursachen individuelle Notlagen lassen sich nicht durch individuelle Hilfen beseitigen. Und doch braucht es die – wer von Ihnen wüsste das nicht -, damit Menschen nicht gut gemeinte, allgemeine schöne Sprüche hören, sondern ganz konkrete Verbesserungen in ihrem individuellen Leben, in ihrer Familie oder auch im Stadtteil erfahren und erreichen.

Vielleicht sprechen wir heute im Diakoniewerk weniger vollmundig von Anwaltschaft, weil die Gefahr von übergriffigem Handeln, von paternalistischer Fürsorge oder Bevormundung bewusster ist als in früheren nur vermeintlich besseren Zeiten. Die Aufarbeitung von grenzwertigem und grenzüberschreitendem Handeln etwa in konfessionellen Einrichtungen der Behindertenhilfe und der Jugendhilfe durch Mitarbeitende hat das beispielhaft gezeigt. Es geht um Mitarbeitende, die im Horizont ihrer Zeit sicher das Beste für die ihnen Anvertrauten wollten, die aber ganz gegenteilige, schlimmste Beschädigungen bei den Betroffenen bewirkt haben.

Deshalb ist es richtig, noch mehr als in der Vergangenheit das Recht und die Eigenart jedes Einzelnen zu beachten. Deshalb ist es richtig, noch mehr Strategien einer Aktivierung Betroffener und eines gemeinsamen politischen bzw. Gemeinwesen-orientierten Engagements mit Betroffenen als Beteiligten zu entwickeln. Das setzt voraus, dass wir die Grundlagen für eine fachlich hochwertige Arbeit sichern. Diese Interessen von uns als Unternehmen und Wohlfahrtsverband müssen benannt und eingefordert werden. Aber sie sind nicht automatisch identisch mit den Interessen der Menschen, die wir in der Arbeit begleiten. Und umgekehrt ist nicht jede und jeder „Unerhörte“, um es mit dem Diakonie-Kampagnen-Motto auszudrücken, dem zugehört wird, automatisch in seiner persönlichen Forderung einfach zu unterstützen. Anderes zu behaupten ist reiner Populismus.

„Öffne deinen Mund für den Stummen, für das Recht aller Schwachen!“ Im alten Leitbild des Diakoniewerks wurde beispielhaft das anwaltschaftliche Handeln von Mitarbeitenden konkretisiert durch die Übernahme „sozialpolitischer Verantwortung in unterschiedlichen Facharbeitskreisen auf kommunaler und regionaler Ebene“. Und es wurde ausgeführt, dass wir uns „in den Arbeitsformern der Begleitung, der Beratung, der Förderung und des Trostes sowie in der Öffentlichkeitarbeit […] für die gesellschaftliche Integration Ausgegrenzter, Armer und Schwacher einsetzen, um ihnen die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft in breiter Form zu ermöglichen.“ Ein Paradebeispiel für solch ein Handeln ist für mich die Fachtagung von und für Menschen mit Handicap, die vor Corona gemeinsam mit anderen Partnern in der VHS jährlich durchgeführt wurde. Ziel: ein „Leben mit Handicap – ohne Einschränkung!?“ Schritt für Schritt zu fördern. Und wenn ich Mitarbeitende unseres Werks in Interviews sehe oder höre, bin ich beeindruckt, wie es gelingt, von der fachlichen Arbeit zu berichten, von dem, was für eine Verbesserung der Situation nötig wäre und von dem, was die Menschen umtreibt, mit denen sie arbeiten und denen sie in diesem Moment eine Stimme geben.

„Öffne deinen Mund für den Stummen, für das Recht aller Schwachen!“ Ich möchte Mut machen, das im normalen Alltagsgeschehen, in der hohen Partizipation der Betroffenen in der Gestaltung ihrer Hilfe, in Interviewsituationen in den Medien, in besonderen Aktionen oder noch ganz anders weiter bewusst zu leben. Das wird nie perfekt sein, aber doch in klarer Umsetzung unseres diakonischen Auftrags. So sei es.

Andreas Müller