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Wunder – oder „Das Universum kümmert sich um all seine Vögel“

Waren Sie in diesem Jahr im Kino und haben den Film „Wunder“ gesehen? Wenn nicht, haben Sie etwas verpasst. „Wunder“ ist die filmische Umsetzung des gleichnamigen Bestsellers von Raquel J. Palacio aus dem Jahr 2012. Film und Buch erzählen die Geschichte eines Jungen, dessen Gesicht von Geburt an unübersehbar entstellt ist. „Ein Buch, das erwachsene Männer zum Weinen bringt.“ Dieses Zitat aus der britischen Zeitung „The Guardian“ auf dem Klappentext des Buches habe ich anfangs belächelt. Ich gestehe, am Ende kamen mir beim Lesen tatsächlich die Tränen, was mir nicht oft passiert. Im Kino war das nicht anders.

Die Geschichte hat nicht nur mich bewegt. Der Debütroman der New Yorker Autorin, die eigentlich Raquel Jaramillo heißt und Verlegerin, Schriftstellerin und Buchumschlaggestalterin ist, hat es über Monate auf die Bestseller-Liste der New York Times gebracht. In Deutschland hat er beim Deutschen Jugendliteraturpreis 2014 den Preis der Jugendjury gewonnen. Was macht das Buch bzw. den Film so besonders?

2.

Im Zentrum steht der zehnjährige August Pullman, von allen Auggie genannt. Er hat seit seiner Geburt ein von Anomalien entstelltes Gesicht. Trotz 27 Operationen löst der Anblick seines Gesichts noch immer Erschrecken aus und den Impuls, weg zu schauen. Er stellt sich selbst mit den Worten vor: „Was immer ihr euch vorstellt – es ist schlimmer.“ Bisher wurde er von seiner Mutter zuhause unterrichtet, in den USA geht das ja. Und er wurde mehr oder weniger versteckt. Mit zehn Jahren geht er nun erstmals in die Schule, in die fünfte Klasse. Wie es ihm dort in seinem ersten Jahr ergeht, erzählt „Wunder“.

Eindrucksvoll und höchst anschaulich hören wir aus der Perspektive ganz unterschiedlicher Menschen, wie sie sich zu ihm verhalten bzw. verhalten müssen und wie Auggie seine Entwicklung beschreibt. So ist ein wunderbares Buch über die Chancen und die Schwierigkeiten Jugendlicher ihre Identität zu finden und über den Umgang mit Fremdheit entstanden. In Rezensionen werden Aspekte des Umgangs mit Außenseitern, Mobbing oder Inklusion reichlich besprochen.

Ich war allerdings überrascht, was so gut wie gar nicht bedacht wird: Der Roman erzählt nämlich mit großer Tiefe und doch sehr einfach auch vom Ringen mit Gott. Er geht der Frage nach, wie sich der Glaube an Gott mit dem Leben mit einem schwerwiegenden Handicap in Einklang bringen lässt. Und was eigentlich ein Wunder ausmacht.

3.

Das Buch beginnt mit einem herkömmlichen und weit verbreiteten, theologisch aber ziemlich veralteten Verständnis von Wunder. Auggie wünscht sich, dass irgendwie sein Gesicht – und damit er als Person – „normal“ werden soll. „Wenn ich eine Wunderlampe finden würde und einen Wunsch frei hätte, würde ich mir wünschen, ein normales Gesicht zu haben, das nie jemandem auffallen würde.“ Dieser Wunsch geht nicht in Erfüllung.

Mitten drin in der Geschichte, als es ganz schwer für Auggie an seiner Schule ist, macht sich Justin, der Freund von Auggies 15-jähriger Schwester Olivia, Gedanken darüber, warum Auggie so aussieht wie er aussieht. Er hat einen Satz von Olivias Klassenkameradin Miranda aufgeschnappt: „das universum ist nicht nett gewesen zu auggie pullman“.

Justin fragt sich wie viele andere in ihrem Leben: „was hat dieser kleine junge verbrochen, um solch eine strafe zu verdienen? was haben seine eltern verbrochen?“ Stimmt es, dass das Leben eine einzige, riesige Lotterie ist, dass es reiner Zufall ist, ob das Leben leicht oder schwer zu bewältigen ist? Stimmt: „du kaufst dir ein los, wenn du zur welt kommst, und dann ist es reiner zufall, ob es ein gutes oder ein schlechtes los ist. es ist alles bloß glück.“

4.

Im Verlauf der Geschichte entdecken Menschen in sich und in anderen kleine oder große „Wunder“. So auch Justin. Er denkt weiter: „wenn alles wirklich nur zufall wäre, würde das universum uns einfach komplett im stich lassen. und das tut das universum nicht. es kümmert sich um seine verletzlichsten geschöpfe auf eine art und weise, die wir nicht wahrnehmen können.“

Konkret denkt Justin an die Eltern, die bedingungslos hinter ihrem Sohn stehen. Er denkt an Auggies Schwester, die viel für ihren kleinen Bruder auf sich nimmt. Er denkt an Jack, der in der Schule trotz riesiger Rückschläge schließlich zu Auggies bestem Freund wird. Justins Schlussfolgerung: „vielleicht ist das ganze eine große lotterie, aber das universum gleicht am ende alles wieder aus. das universum kümmert sich um all seine vögel.“

5.

„Wunder ist, was wir als Wunder interpretieren“, hat der evangelische Theologe Fulbert Steffensky formuliert. Er spitzt damit die Erkenntnis zu, dass sich Wunder entgegen einer früher geläufigen Deutung eben nicht objektiv feststellen lassen, erst recht nicht als Handeln Gottes gegen die Natur. Bestimmte Lebenszusammenhänge, bestimmte Ereignisse werden aber bis heute von Menschen als Wunder gedeutet, lange nicht nur von Gläubigen. Es sind Erlebnisse, die im Nachhinein zu einer neuen Erkenntnis und zum Lob Gottes führen. Das können ganz gewöhnliche, das können ziemlich außergewöhnliche Ereignisse sein. Alles kann zum Wunder werden für den, der Augen hat zu sehen, dass wusste Anfang des 19. Jahrhunderts schon der protestantische Meistertheologe Friedrich Schleiermacher. Nicht Gott wird durch Wunder definiert, sondern Wunder werden durch den Glauben an Gott erst erkannt.

Am Ende von Auggies erstem Schuljahr fasst der Schulleiter, Mr. Pomann, seine Deutung der Ereignisse in einer Rede bei der Schlussfeier zusammen. Bei dieser Veranstaltung, in der Auszeichnungen für besondere Leistungen einzelner Schülerinnen und Schüler verliehen werden, zieht er sein Resümee des Schuljahres. Und er gibt seine Quintessenz als Wunsch für den weiteren Lebensweg seinen Sprösslingen und deren Familien mit: „Wenn jede einzelne Person in diesem Raum es sich zur Regel machen würde, wo immer sie sich befindet, wann immer es möglich ist, zu versuchen, sich etwas freundlicher zu verhalten als notwendig ist – würde die Welt zu einem besseren Ort werden. Und wenn ihr das tut, wenn ihr euch etwa freundlicher verhaltet als notwendig, dann wird irgendjemand irgendwo irgendwann vielleicht in jedem Einzelnen von euch das Antlitz Gottes erkennen.“ Und mit einem Schulterzucken ergänzt er: “Oder welche politisch korrekte spirituelle Verkörperung universeller Güte es auch sein mag, an die ihr zufällig glaubt.“

6.

Die Idee zu „Wunder“ kam der Autorin einem Interview zufolge aufgrund eines realen Erlebnisses. Zusammen mit ihren Kindern begegnete sie bei einem Ausflug außerhalb von New York einem Mädchen mit Gesichtsanomalien. Sie sah sich und ihre beiden Kinder mit der eigenen Hilflosigkeit konfrontiert, wie man in solch einer Situation angemessen reagieren kann. Auf der Rückfahrt nachhause lief im Radio „Wonder“ von Natalie Merchant, der Raquel J. Palacio zum Titel ihres Buches inspirierte.

In dem Song geht es um den Umgang mit einem körperlichen Handicap, mit dem ein Kind zur Welt kam. Ein Auszug aus dem Songtext eröffnet das Buch: „Ärzte kommen aus entfernten Städten nur um mich zu sehen, sie stehe an meinem Bett und glauben nicht, was sie sehen. Sie sagen, ich muss eins dieser Wunder von Gottes Schöpfung sein, und soweit sie sehen, können sie keine Erklärung geben.“

Das eigene Leben kann ich als ein Wunder Gottes nur deuten. Beweisen lässt sich das nicht. Wissenschaftlich widerlegen lässt es sich allerdings auch nicht. Ich kann im Glauben an Gott zu dieser Interpretation kommen. Das Buch hört tatsächlich mit genau dieser Erkenntnis auf. Auggies Mutter, im Film gespielt von Julia Roberts, dankt auf dem Nachhauseweg von der Abschlussfeier ihrem Sohn. Der fragt: „Wofür?“ Und die Antwort seiner Mutter, die ihn im vergangenen Schuljahr mit viel Schmerzen ins Erwachsenwerden loslassen lernen musste: „Für alles, was du uns gegeben hast. […] Dafür, dass du in unser Leben getreten bist. Dafür, dass du du bist. […] Du bist wirklich ein Wunder, Auggie. Du bist ein Wunder.“

7.

Sie sehen: “Wunder“ bietet tiefsinnige theologische Gedanken über das Wunder des Lebens. Das Leben kann auch dann ein Wunder sein, wenn Menschen mit den härtesten Einschränkungen leben müssen!

Im Leitbild einer diakonischen Einrichtung wie dem Diakoniewerk Essen klingt der Bezug zum Wunder des Lebens ebenfalls an: „Unser Handeln richtet sich an der Würde aus, mit der Gott jeden Menschen in seiner Einzigartigkeit ausstattet.“ Das eigene Leben oder das von anderen, Ereignisse in meiner Lebensgeschichte oder in der Welt, die mich umgibt, als Wunder zu deuten kann und darf allerdings kein Leitbild. Das kann jede und jeder nur persönlich entdecken. Das Buch und der Film „Wunder“ ist dafür eine ziemlich gute Anleitung. Amen.

Andreas Müller