Vor ein paar Jahren erzählte mir ein älterer Mann aus der Gemeinde, dass sein Vater im Zweiten Weltkrieg an der Ostfront verschollen ist. Er selber hat keine bewussten Erinnerungen mehr an ihn. Doch mit zunehmendem Alter wurden die Fragen nach dem vermissten Vater immer vorherrschender. Ist er gefallen? Ist er in Gefangenschaft geraten? Gehörte er zu den Heimkehrern, die an Entkräftung und Seuchen starben? Wurde er in einem der Massengräber verscharrt? Was geschah mit ihm?
Seine Recherchen ergaben nur sehr dürftige Informationen. Er hoffte, in Frankfurt/Oder, woher seine Familie stammt, eine Gedenktafel zu finden, die an die deutschen Opfer des Krieges erinnert. Laut seiner Aussage fand er sie weder in städtischen noch kirchlichen Gebäuden. Das schmerzte ihn sehr. „Es ist für mich unerträglich“, sagte er, „dass es keinen öffentlichen Ort gibt, an dem ich und andere Angehörige unserer verschollenen Familienmitglieder gedenken können.
Mich bewegt seine Geschichte. Die Suche nach dem verschollenen Vater und die Suche nach einem Ort des öffentlichen Gedenkens in seiner Heimatstadt.
Wir brauchen Orte des Gedenkens, privat und auch als Kollektiv, als Gemeinde, als Stadt, als Land. Diese Orte geben den vermissten Menschen wenigstens einen Teil ihrer Würde zurück. Und sie machen deutlich: Sie sind nicht vergessen!
Der ältere Herr stammt aus der Kirchengemeinde Königssteele. Das Presbyterium hat seine Geschichte zum Anlass genommen, in der Friedenskirche in Steele eine Gedenktafel anzubringen. Darauf stehen die Worte:
Ein Ort zum Verweilen – zum Nachdenken und Erinnern.
Im Gedenken an die Opfer von Krieg-Gewalt-Willkür-Terror-Rassenhass.
(Jesus sagt:) Im Abschied gebe ich euch den Frieden, meinen Frieden – nicht den Frieden, den die Welt gibt. Johannes 14,27
Ich erlebe immer wieder Menschen, die hier stehen bleiben und eine Kerze im Gedenken anzünden.
Wenn Jesus von seinem Frieden spricht, den er uns hinterlässt, schwingt darin alles mit, was in seiner aramäischen Muttersprache das Wort für Frieden, „Schalom“, meint: Wohlergehen, Heil, Unversehrtheit, Gesundheit, Sicherheit, Frieden, Ruhe.
Frieden zu schaffen, in diesem umfassenden Sinn, bleibt unser aller Auftrag.
„Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein“, so hat es der Ökumenische Rat der Kirchen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg 1948 in Amsterdam formuliert.
Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein. Das war auch ein Lernprozess für die Kirchen, die im Ersten und im Zweiten Weltkrieg Waffen gesegnet haben.
Der Tag heute mahnt, Krieg nicht als unabwendbares Schicksal zu sehen, ihn nicht voreilig als Mittel der Außenpolitik einzusetzen, um von innenpolitischen Schwierigkeiten abzulenken, sei es in Europa, sei es weltweit.
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren sich die meisten Völker einig: Wir wollen alles unternehmen, um Krieg zu verhindern. Wir wollen die Gemeinschaft unter den Völkern stärken. Und wir müssen Institutionen schaffen, die Konflikte auf gewaltfreien Wegen lösen. Es war dieser Friedenswille, aus dem die Idee der europäischen Einigung entstanden ist. Und der zur Gründung der Vereinten Nationen führte. Wir können heute dankbar dafür sein, dass die Kriegsgegner seit 1945 in Frieden leben und aus Feinden auch Freunde geworden sind.
Die Mahnung zum Frieden und zur Versöhnung ist bei aller Veränderung der Erinnerungskultur bis heute die zentrale Botschaft des Volkstrauertages.
„Erinnerung ist Wachsamkeit für Gegenwart und Zukunft“, stand in der Einladung, die ich zu dieser gemeinsamen Feierstunde erhalten habe. Wir sollten den Volkstrauertag meines Erachtens nach noch stärker als Friedensgedenktag hervorheben, um deutlich zu machen: Wir wollen alles tun, was dem Frieden dient und gemeinsam nach Lösungen suchen. Auch um mehr junge Leute anzusprechen, für die der Volkstrauertag in seiner jetzigen Form so gut wie keine Bedeutung mehr hat.
Der Volksbund deutscher Kriegsgräberfürsorge, der in diesem Jahr hundert Jahre alt wird, führt seit Mitte der Fünfzigerjahre internationale Jugendbegegnungen und Workcamps in ganz Europa durch; sie stehen unter dem Motto: „Versöhnung über den Gräbern – Arbeit für den Frieden“. Rund zwanzigtausend Jugendliche und junge Menschen nutzen jährlich diese Angebote. Was für ein hoffnungsvolles Zeichen!
Friedenswege sind oft steinige, unbequeme Wege. In Konflikten heißt es: Hinschauen, hinhören, nach Wegen suchen. Für Christinnen und Christen, für gläubige Menschen, ist der Glaube eine wichtige Kraftquelle zum Frieden und zur Versöhnung.
In seiner Antrittsrede als Bundespräsident sagte der Essener Gustav Heinemann am 1. Juli 1969 – und damit möchte ich schließen:
„Ich sehe als erstes die Verpflichtung, dem Frieden zu dienen. Nicht der Krieg ist der Ernstfall, in dem der Mann sich zu bewähren habe, wie meine Generation in der kaiserlichen Zeit auf den Schulbänken lernte, sondern der Frieden ist der Ernstfall, in dem wir alle uns zu bewähren haben. Hinter dem Frieden gibt es keine Existenz mehr.“
Heiner Mausehund
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Ansprache zum Volkstrauertag 2019, gehalten am 17. November 2019 auf dem Südwest-Friedhof in Essen.