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Dem anderen zum Nächsten werden

125 Jahre gibt es in diesem Jahr die Bahnhofsmission im Hauptbahnhof Essen. Das ist wirklich ein guter Grund zu feiern. Und das tun wir ja auch schon kräftig in diesem Jahr. Das war etwa am bundesweiten Tag der Bahnhofsmission im Frühjahr der Fall und natürlich auch beim Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz, der die Arbeit am 1. September sehr gewürdigt hat.

Nach der Gründung 1897 durch die Diakonie kam nach wenigen Jahrzehnten die Caritas als Träger hinzu. Heute ist die Bahnhofsmission in Essen selbstverständlich ökumenisch aufgestellt, und selbstverständlich wird ein ökumenischer Gottesdienst gefeiert. 125 Jahre ist die Bahnhofsmission eine ganz besondere und immer verlässliche Anlaufstelle für die Menschen im und am Bahnhof. Hier gibt es Hilfestellung, wo und wie sie gerade gebraucht wird. Diese Unterstützung hat sich mit den Menschen am Bahnhof und in der Stadtmitte gewandelt.

Vielleicht das Wichtigste: Die Bahnhofsmission steht für ein breites und starkes ehrenamtliches Engagement. Ohne dieses Engagement ist sie überhaupt nicht denkbar. Insofern gilt der Dank der beiden Träger Diakoniewerk und Caritasverband in Essen ganz besonders denen, die sich freiwillig in der Bahnhofsmission engagieren. Und das zuverlässig, mit großen Einsatz und oft  über einen erstaunlich langen Zeitraum.

Warum machen Menschen das, und dann noch ehrenamtlich? Daniel Stieger, lange Zeit ehrenamtlich für die Bahnhofsmission tätig und heute studentische Hilfskraft, hat im Interview mit mir auf die Geschichte vom Barmherzigen Samariter hingewiesen. Sie steht im Lukas-Evangelium 10,25-37. Sie gehört zu den biblischen Grundtexten von Diakonie und Caritas. Diese Geschichte hat durch die Jahrhunderte Christen inspiriert, sich für andere einzusetzen. In ihr leistet jemand, als er gebraucht wird, mitten in der staubigen Wüste in unwegsamen und unwirtlichen Gelände spontan erste Hilfe. Danach sorgt er für die weitere Betreuung dessen, der in Not geraten ist.

Warum tut er das? Weil er nicht wie die anderen, von denen erzählt wird, wegschaut, vorübergeht. Nein, da schaut jemand genau hin. „Es jammerte ihn“, so die Übersetzung Martin Luthers, oder „hatte er Mitleid mit ihm“, so die Einheitsübersetzung. Das ist das Entscheidende! Da lässt sich jemand vom Schicksal eines Mitmenschen anrühren. Und hilft, konkret, jetzt, mit dem, was dran ist. Wer in der Bahnhofsmission arbeitet, kennt das aus eigener Erfahrung, das weiß ich.

Eine Frage, die schnell aufkommt, ist dann: Ist etwas an dieser Hilfe besonders christlich? Vielleicht ist das auch für die eine oder den anderen der Ehrenamtlichen eine versteckte Frage. Muss das sein mit diesem Gottesdienst zum Jubiläum, soll ich das hingehen? Bin ich den christlich genug dafür? Es lohnt genau auf den Text zu achten.

Ja, Jesus erzählt die Geschichte. Insofern gehört sie unbedingt zur Kirche, zu Diakonie und Caritas. Aber die Person, die Jesus den anderen zum Vorbild für richtige Nächstenliebe mit seiner Geschichte vor Augen malt, hat die falsche Religion. Die jüdischen Frommen, die Glauben „können“ sollten, – der Priester, der Levit – gehen an dem Menschen, der sie braucht, vorbei. Stattdessen tut der Gläubige aus dem  „falschen“ religiösen Lager das, was dran ist. Der Samariter gehörte zu einer religiösen Minderheit, mit der man möglichst wenig zu tun haben wollte und die – wenn irgend möglich – zu meiden war.

Wir hören im Übrigen überhaupt nichts von einer besonderen religiösen Motivation, nichts von einem seelsorgerlichen Zuspruch oder einem Gebet. Der Überfallene erfährt Zuwendung, weil sich sein Helfer, der Samariter, anrühren lässt von seiner Not. Es geschieht, was von Anfang der Schöpfung gewollt ist: Menschen sind aufeinander angewiesen und füreinander da. Die konkrete Praxis ist entscheidend. Das ist in unserer Menschlichkeit angelegt – Gott sei Dank, und von Gott so gewollt. Ich denke, viele erkennen darin etwas von ihrem eigenen Engagement bei der Bahnhofsmission wieder.

Bei einem genaueren Hinhören auf die Geschichte birgt sie noch eine Überraschung. Jesus dreht die Frage, auf die hin er die Geschichte erzählt, um. Der ihn fragt, wollte wissen: „Wer ist denn mein Nächster, den ich lieben soll?“ Mit anderen Worten: Wer ist der Adressat meiner Hilfe?

Jesus kehrt die Perspektive um. Er fragt: Wer ist dem anderen zum Nächsten geworden? Also, wer braucht meine Hilfe und wie? Damit ist prinzipiell kein Mensch von Hilfe ausgeschlossen. Es geht nicht um einen bestimmten Kreis, auf den mein Handeln zu beschränken wäre. Jeder Person, der ich konkret helfen kann, kann ich zum Nächsten werden. Jesus nimmt die Sicht dessen ein, der Hilfe braucht.

Das klingt vertraut, ist aber auch nicht so selbstverständlich wie es klingt. Dass der Mensch im Mittelpunkt steht – das muss gelernt und überprüft werden. Ich brauche dafür eine Haltung, eine Bereitschaft zum beständigen Lernen, die sich entwickeln muss und die alle Beteiligten mittragen, damit die Absicht wirklich umgesetzt wird. Deshalb ist die gute Zusammenarbeit im Team so wichtig.

Für mich erklärt dieser Perspektivwechsel, den Jesus vornimmt, viel von der Geschichte der Bahnhofsmission in Essen. Ich habe schon gesagt, dass es hier die Hilfestellung gibt, wo und wie sie gerade gebraucht wird. Und dass sich diese Unterstützung mit den Menschen am Bahnhof und in der Stadtmitte gewandelt hat und ständig weiter verändert.

Vor 125 Jahren wurde die Bahnhofsmission ins Leben gerufen, um Frauen Schutz und Hilfe zu bieten. Sie zogen nach Orte wie Essen, um im Zuge des gewaltigen Industrialisierungsschubs der damaligen Zeit ihren Lebensunterhalt am fremden Ort zu verdienen, egal ob in Fabriken oder als Dienstmädchen. Doch gerieten viele Mädchen und junge Frauen dabei an unseriöse Vermittler mit zweifelhaften Absichten. Die Vermittlung endete nicht selten in Ausbeutung oder Prostitution. In einem der frühen Jahresberichte unserer Bahnhofsmission heißt es deshalb: „Gerade die Bekämpfung des organisierten Mädchenschleppwesens in den Wartesälen der Großstadt gehört  zu den vornehmsten und wichtigsten, aber gewiss schwierigsten Aufgaben der Bahnhofsmission.“ So wurden damals vor allem sichere Unterkünfte und Arbeit an Frauen vermittelt.

Die jeweiligen Nöte der Menschen bestimmten und bestimmen die Arbeit der Bahnhofsmission. Flüchtlinge und Vertriebene, zurückkehrenden Soldaten und Auswanderer nach Übersee brauchten nach dem Ersten wie nach dem Zweiten Weltkrieg etwas anderes als Flüchtlinge aus der DDR, die nach dem Mauerbau mit Interzonenzüge nach Essen, besonders nach Altenessen kamen. Wieder anders bekamen die sogenannten „Gastarbeiter“ Unterstützung im neuen fremden Land, in das sie ganz oft per Zug anreisten. Die heute Aktiven könnten persönlich von den besonderen Erfahrungen mit den Flüchtlingen 2015/16 oder den Geflüchteten aus der Ukraine in diesem Jahr berichten. Oder wie einige der Ehrenamtlichen es bei Bundeskanzler Scholz getan haben von aktuellen Projekten erzählen wie „Bahnhofskinder“, „Bahnhofsmission 60+“, „Bahnhofsmission inklusiv“ oder „Ellen’s Treff“. Das sind vier Projekte, die sich an ganz unterschiedliche Zielgruppe richten und die Vielfalt der Bahnhofsmission deutlich machen. Und wie sie durch dieses Handeln, zum Nächsten werden für die, das brauchen.

Daniel Stieger hat im Interview betont, was ihm in der Geschichte bekannt vorkommt aus seiner Arbeit. Die Hilfe erfolgt in der Geschichte in zwei Stufen. Aus Mitleid heraus wird zunächst punktuell und begrenzt geholfen. Danach organisiert der Samariter gegen Bezahlung die „stationäre“ Versorgung des unter die Räuber Gefallenen im Wirtshaus. Die Freiwilligen bezahlen die weiterführenden und zielführenden Hilfen im sozialen Netz unserer Stadt hoffentlich nicht für die Menschen, die sie weiter vermitteln. Aber sie sorgen mit dafür, dass es nicht bei einer punktuellen Hilfe bleibt, sondern das Menschen Wege finden können, auf denen ihnen über den Moment hinaus wirklich und tiefgreifend geholfen werden kann. Es ist gut, richtig, wichtig und notwendig, dieses Netzwerk der Hilfe zu nutzen. Es muss aber immer wieder nachgebessert werden, wo das nötig ist, auch in Essen.

Ein letzter Punkt zur Geschichte: Am nächsten Tag zieht der Helfer weiter. Das heißt: Zum einen kommt es auf die persönliche Zuwendung an, die ich gebe. Zum anderen brauche ich aber auch eine angemessene Distanz, um gut zu helfen. Zu einer professionellen Arbeit, ob beruflich oder im Ehrenamt, gehört demnach nicht nur, sich anrühren zu lassen, sondern ebenso genug oder rechtzeitig Abstand zu bekommen. Das schließt ein, dass ich jemand in die Hände eines noch adäquateren Helfers übergebe oder eine Hilfe-Beziehung beenden kann, wenn das getan ist, was ich tun konnte.

Ich sage nochmals herzlichen Dank für allen Einsatz, an welcher Stelle auch immer für die Bahnhofsmission Essen und für die Menschen, die davon profitieren. Und ich wünsche der Bahnhofsmission insgesamt alles Gute für die nächsten Jahre – zugunsten der Menschen im und am Bahnhof in der Essener Innenstadt! Dazu Gottes Segen! Und vielleicht hilft es an manchen Situationen, sich an Jesu Schlusswort in der Geschichte vom barmherzigen Samariter zu erinnern: „Dann geh und mach es ebenso.“ Amen.

Andreas Müller
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Diesem Blogbeitrag liegt die Ansprache zugrunde, die Diakoniepfarrer Andreas Müller am 29. Oktober 2022 in der Heilig-Kreuz-Kirche in Essen im Ökumenischen Gottesdienst zum 125jährigen Bestehen der Bahnhofsmission Essen gehalten hat.