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450 Jahre Demokratie in unserer Kirche: Die Emder Synode von 1571

Zufällig geriet ich während meines Studiums in Bonn in eine Arbeitsgruppe, die sich mit den Leitungsstrukturen unserer Kirche befasste. Erstaunt lernte ich, dass wir in unserem Bereich gut zweihundert Jahre vor der Französischen Revolution schon demokratische Strukturen entwickelten. Ich hatte 1968 Abitur gemacht und bin deshalb auch so ein bisschen ein Alt-Achtundsechziger. Dass Menschen sich praktisch ohne Hierarchie organisierten, das fand ich enorm und bin bis heute ein bisschen stolz darauf, dazu zu gehören. Aber ich habe sicher in meinem Berufsleben auch nicht immer alle Probleme lösen können, ohne autoritär zu werden.

Der wichtigste Gedanke

Vom 4. bis zum 13. Oktober 1571 versammelten sich in einem Lagerhaus in Emden 29 Vertreter evangelischer Gemeinden. Der Kernsatz ihres Beschlusses:

„Keine Gemeinde soll über andere Gemeinden, kein Pastor über andere Pastoren, kein Ältester über andere Älteste, kein Diakon über andere Diakone Vorrang haben oder Herrschaft beanspruchen. Sie sollen lieber dem geringsten Verdacht oder jeder Gelegenheit dazu aus dem Weg gehen.“

Kann das sein? Eine Kirche ohne Oben und Unten, ohne Hierarchie? So hielten es die Leute in Emden für angemessen.

Die geschichtliche Situation

In dem Land mit den 17 Provinzen – so wurde damals das Land benannt, das in etwa den heutigen Niederlanden entspricht – gab es über viele Jahre eine heftige Auseinandersetzung zwischen den katholischen Spaniern und den evangelischen Gemeinden. Als 1567 Herzog von Alba eingesetzt wurde, wurden sehr viele Menschen wegen ihres protestantischen Glaubens vertrieben oder gar hingerichtet. Die evangelischen Flüchtlinge gelangten nach London, Aachen, Wesel, nach Emden und in etliche andere Orte. Allein in Emden sollen sich etwa 5000 Menschen angesiedelt haben, die Hälfte der Bevölkerung. Die Toleranz war dort sehr groß. Es lebten „altgläubige“, wie man die katholischen Christen nannte, lutherische, zwinglianische, calvinische oder sogar Täufer beieinander.

Die Flüchtlinge aus den Niederlanden beriefen sich zumeist auf Calvin, den Reformator in Genf. Wir nennen sie heute Reformierte. Sie wollten nach den schlechten Erfahrungen mit den Regierungen ihres Herkunftslandes auf keinen Fall mehr eine Unterordnung unter irgendeine Obrigkeit. Sondern sie wollten eine Kirche von unten aufbauen. Auf der Ebene der Gemeinde sollte alles entschieden werden, wozu man dort in der Lage war. Aber man wollte auch einen Zusammenhalt zwischen den Gemeinden. Dazu brauchte es neue Strukturen.

Es wurde nach einigem Hin und Her nach Emden eingeladen, weil man Teilnehmer aus England erwartete, die dann allerdings doch keine Ausreisegenehmigung bekamen. Als Termin wählte man den Oktober, weil zu der Zeit eine Messe in Emden stattfand. Dann war dort ohnehin viel los und die Synode fiel nicht so auf. In dem neu erbauten Lagerhaus versammelte sich sonst die französisch sprechende Gemeinde, deren Mitglieder aus den Südprovinzen der Niederlande stammten. Nun tagte hier eine Synode mit den Vertretern aus Flüchtlingsgemeinden.

Evangelische Entwicklung

Schon Martin Luther hat das Priestertum aller Gläubigen betont. Für ihn waren eine Nonne und eine Mutter gleichrangig. Alle unterstanden dem einen Herrn Jesus Christus. Allerdings entschied sich Luther dann, dass die Fürsten als Ersatzbischöfe in die Kirchenstruktur mit einbezogen wurden. Dadurch wurden lutherische Kirchen doch wieder hierarchisch.

Huldrych Zwingli beschrieb Kirche als die Gemeinde derer, die an Christus glauben. Er dachte von der Gemeinde aus. Allerdings verknüpfte er seine Gemeinde sehr eng mit der Leitung der Stadt.

Johann Calvin musste selbst nach Genf fliehen. Die Gemeinden, die sich in Frankreich und den Niederlanden auf ihn beriefen, lebten unter großem Druck, den die katholischen Regierende auf sie ausübte. Man nannte sie die „Gemeinden unter dem Kreuz“.

Für Calvin gibt es mehrere Ämter (Pastoren, Doktoren, Älteste und Diakone). Sie sollten respektvoll miteinander umgehen. So sollte auch jeder Pfarrer und jeder Ältester in eine Gemeinschaft eingebettet sein. Dazu gehört auch gegenseitige Korrektur. Aber es sollten eben die Fähigkeiten aller zum Wohl der Gemeinschaft zum Zuge kommen. Weil Gott jedem Menschen gute Möglichkeiten gibt, sollen diese auch für alle zum Tragen kommen. Paulus nennt diese Möglichkeiten Charismen. Allerdings geriet dieser Gedanke später in etlichen reformierten Gemeinden zu einer starken gegenseitigen Kontrolle mit einem starken Moralismus.

Die Vorgeschichte

Die Gemeinden der Flüchtlinge und die Gemeinden in den Herkunftsländern wollten weiter eine gute Zusammenarbeit. Dazu brauchten sie neue Strukturen. Erste Schritte dazu wurden in einem Konvent 1568 in Wesel begangen. Die Gemeinden sollten von dem Konsistorium (heute: Presbyterium) geleitet werden. Was auf Gemeindeebene nicht zu entscheiden war, sollte in der Classes mit einer Synode entschieden werden (etwa der heutige Kirchenkreis), darüber gab es die Provinzen (etwa Landeskirche) und eine Generalsynode aller evangelischen Gemeinden.

Tagesordnung

In Emden 1571 wurde dann das genauere Vorgehen verhandelt. Immer wieder deutlich: Kirche wird von der Gemeinde aus gedacht und geleitet, also von unten. Aber man brauchte auch größere Strukturen, z.B. für die Ausbildung und Einstellung der Pastoren und für Streitfälle. In der Synode wurden auch einzelne Probleme erörtert. Durchreisende Gemeindemitglieder sollten beherbergt werden, dabei sollten die Gemeinden nicht überfordert werden. Mutwilliger Streit sollte nach Möglichkeit verhindert werden. Es sollte auch zwischen den Pastoren kollegial zugehen. Sie sollten gemeinsam Predigten beurteilen. Und wer in einer anderen Gemeinde predigen wollte, brauchte die Genehmigung des Ortspastors. Die Wiederheirat sollte möglich sein, auch wenn der Tod des früheren Partners nicht genau dokumentiert war.

Viel war von Freiheit die Rede: Die Gemeinden konnten die Amtszeit der Presbyter selbst festlegen, sie konnten die Form des Gottesdienstes bestimmen. Sie konnten entscheiden, ob bei einer Taufe Paten notwendig sind oder nicht. Das Presbyterium konnte sogar bestimmen, welcher Katechismus gebraucht wurde. Allerdings gab es auch verpflichtende Bekenntnisse, die die Glaubensgrundlage deutlich machten. Das Hugenottische Bekenntnis von 1559 und das Niederländische Bekenntnis von 1561 wurden aufgeführt.

Das neue Kirchenverständnis wurde deutlich: Gemeindemitglieder sind nicht Empfänger religiöser Dienstleistungen. Sie sind mitwirkende Teile einer Gemeinde. So sollen sie die Pastoren auf Menschen aufmerksam machen, die für den evangelischen Glauben aufgeschlossen sind. Und alle wichtigen Dinge werden gemeinsam besprochen und entschieden. Jesus Christus war der Herr der Kirche. Später sagte man: Deshalb brauchen wir keine anderen Herren. Nur für die Ausbildung der Pastoren, für Streitfragen und grundlegende Entscheidungen sollten die höheren Ebenen zuständig sein. Wir nennen diese Kirchenstruktur heute „presbyterial-synodal“, weil in Presbyterien und Synoden entschieden wird. Ein guter Start für eine Kirche!

Weiterentwicklung

Im Oktober 1571 tagte eigentlich nur eine kleine Synode in dem Lagerhaus in Emden: fünfundzwazig Pastoren und vier Presbyter. Doch wurden ihre lateinisch formulierten Beschlüsse sehr schnell ins Niederländische, Französische und Deutsche übersetzt und an alle Gemeinden weitergegeben. Dadurch hatten diese Entscheidungen eine große Bedeutung.

Sehr bald schlossen sich Synoden in Dordrecht (1578), Middelburg (1581), ´s-Gravenhagen (1586) und in Neviges (1589) an. Die Duisburger Generalsynode (für alle evangelische Gemeinden) bezog sich 1610 ausdrücklich auf die Emdener Beschlüsse. Allerdings wollten etwa in der Pfalz die Städte bei der Pfarrwahl mitwirken.

Auswirkungen auf andere

Johannes Althusius war Stadtsyndikus in Emden. Er übernahm die Struktur der evangelischen Kirche für den Staat in seinem Buch „Politica Methodice Digesta“ (1603). Dort nannte man diese Struktur bald „Subsidiaritäsprinzip“. Jeder Teil einer Gesellschaft sollte weitgehend für sich entscheiden und verantworten. Die übergeordneten Ebenen sollten nur zur Hilfe kommen (lateinisch: subsidium = Hilfe), wenn es unbedingt nötig ist. Dieses war ein wichtiger Impuls für den Föderalismus, wie wir ihn in Deutschland besonders gut kennen.

Auch die Katholische Kirche übernahm in ihrer Soziallehre im 19. und 20. Jahrhundert dieses Prinzip. Und König Friedrich Wilhelm III. von Preußen führte diese Struktur in ganz Preußen für die evangelische Kirche ein.

Als in der Nazizeit die „Deutschen Christen“, die der NSDAP nahestanden, von einem Reichsbischof regiert wurden, hielten die Gemeinden der Bekennenden Kirche in ihrer Erklärung von Barmen 1934 dagegen: „Die verschiedenen Ämter in der Kirche begründen keine Herrschaft der einen über die anderen.“

Quellen: Internet: reformiert-info.de [Reformierter Bund, Dachverband reformierter Kirchen in Deutschland] — Buch: M. Freudenberg/A. Siller: Emder Synode 1571, Göttingen 2020) — Broschüre: Isabel Metzger u.a., Keine einsamen Entscheidungen.

Lothar Lachner

Ein Gedanke zu „450 Jahre Demokratie in unserer Kirche: Die Emder Synode von 1571

  1. Große Freude! Liebe Brüder Lachner und Koppelmann: das historische Denken und Glauben ist aus unserer Kirche nicht verschwunden, wie des öfteren behauptet wird.
    Der 4.Oktober 1571 und 4.Oktober 2021. Man lese und sei dankbar für diesen Beitrag.
    Dr.Eckhard Schendel, Essen-Heisingen

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