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Gewalt kommt nicht in die Tüte

In meiner Eigenschaft als Superintendentin der Evangelischen Kirche in Essen bin ich in diesem Jahr Schirmfrau der Aktion „Gewalt kommt nicht in die Tüte“. Darüber freue ich mich außerordentlich! Mein Dank gilt allen, die sich für diese Initiative eingesetzt haben und weiterhin engagieren – insbesondere den Bäckereien, die dieses Thema in unsere Stadt tragen.

Denn eines ist klar: es ist heute kein Tag zum Feiern, sondern ein Tag, der unsere Verantwortung für Frauen und ihr Recht auf körperliche und seelische Unversehrtheit deutlich macht – heute und auch in Zukunft.

Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist keine Randerscheinung und kein Problem vergangener Zeiten. Sie ist eine bittere Realität – weltweit, in Deutschland und auch hier bei uns in Essen. Sie beeinträchtigt das Leben von Frauen tiefgreifend: ihre körperliche und seelische Gesundheit, ihre Freiheit, ihre Würde und oft ihre wirtschaftliche Existenz.

Die Aktion „Gewalt kommt nicht in die Tüte“ trägt dieses Thema mitten in unseren Alltag hinein. Sie macht sichtbar, was sonst viel zu oft im Verborgenen bleibt – hinter Türen, in Beziehungen, in Familien. Die bedruckten Brötchentüten erinnern uns im wahrsten Sinne des Wortes im Vorübergehen daran, dass Gewalt nirgendwo Platz haben darf: nicht in unseren Wohnungen, nicht in unseren sozialen Räumen, nicht in unserer Stadt. Und auch nicht in unserem Denken darüber, was „normal“ oder „hinnehmbar“ sei.

Wir sind heute hier, weil jede Form von Gewalt eine Grenze überschreitet. Und weil wir gemeinsam zeigen wollen: wir sehen hin. Wir sprechen darüber. Und wir stehen an der Seite derjenigen, die Unterstützung brauchen. In den folgenden sechs kurzen Impulsen will ich das Thema „Gewalt gegen Frauen und Mädchen“ aufnehmen.

1. Verbindung von Glauben, Bildung und Verantwortung

Aus christlicher Perspektive ist jeder Mensch von Gott in Würde geschaffen. Diese Würde ist unantastbar. Jede Form von Gewalt stellt deshalb nicht nur eine Verletzung eines einzelnen Menschen dar, sondern auch einen fundamentalen Widerspruch zu unserem Verständnis von Gottes guter Schöpfung.

Bildung spielt dabei eine entscheidende Rolle: Sie stärkt Menschen darin, eigene Grenzen zu erkennen, sie zu schützen und sie auch zu benennen. Sie fördert die Fähigkeit, „Nein“ zu sagen und Unterstützung zu suchen.

Der Glaube kann diesen Weg begleiten – indem er Orientierung gibt, innere Ressourcen eröffnet, Mut zum Handeln weckt und Wege der Versöhnung aufzeigt, ohne dabei Gewalt zu relativieren oder zu entschuldigen.

Es gibt wunderbare biblische Frauengeschichten, von denen wir lernen können: Ein gutes Beispiel ist die Geschichte über Ester, eine Geschichte über Mut und das Setzen von Grenzen auf friedliche Weise (Ester, 1-7). Ester ist Königin in Persien. Sie will ihr Volk schützen – ohne Gewalt. Sie redet klug und ruhig. Sie erklärt, was sie zulässt und was nicht. Statt zu kämpfen, nutzt sie Worte, Verhandlungen und Freundschaften. Sie sammelt Unterstützung und schaut, was gerecht ist. Am Ende sorgt ihr Mut dafür, dass Gewalt vermieden wird und alle zusammenkommen.

Gemeinschaftliche Verantwortung bedeutet schließlich, dass wir als Gesellschaft zusammenstehen: Kirchengemeinden, Schulen, Vereine, Unternehmen, Institutionen, Initiativen. Nur gemeinsam können wir Strukturen schaffen, die Gewalt vorbeugen, Ansprechbarkeit gewährleisten und Betroffenen einen sicheren Raum bieten – für Schutz, für Heilung und für neue Perspektiven. Vernetzung stärkt Wirksamkeit: Kirche, Stadt, Zivilgesellschaft, Einzelhandel usw. – alle gemeinsam schaffen ein unterstützendes Netz.

2. Mut zur Sprache

Wir wissen: Schweigen schützt Täter, nicht Opfer. Indem wir offen über Gewalt reden – in Kirchengemeinden und Gottesdiensten, in Schulen, in Betrieben – schaffen wir Räume, in denen Frauen und Mädchen sich sicher fühlen können, Hilfe zu suchen.

Die Zusammenarbeit mit Bäckereien macht deutlich: Gewalt ist kein abstraktes Thema, es ist eine gemeinsame Verantwortung, Gewalt nicht zu verschweigen

Vieles geschieht bereits und das ist gut so! Es gibt bei uns in der Stadt lokale Hilfsangebote, die wir weiter bekannt machen müssen: Frauenhäuser, Beratungsstellen, telefonische Hotlines, Anlaufstellen, Seelsorge, psychosoziale Begleitung, Rechts- und Organisationsberatung.

3. Was kann jede Einzelne von uns hier tun?

Wenn ich mit Frauen und Mädchen in Kontakt komme, die Gewalt erfahren haben – was zählt dann? Ganz klar: zuhören, ansprechen und auf Hilfsangebote verweisen.

Wenn ich als Frau selbst in Gefahr bin: Vorrang hat immer meine Sicherheit! Das heißt: bei akuter Gefahr den Notruf wählen (Rettungsdienst und Feuerwehr: 112; Polizei: 110), sichere Räume aufsuchen!

Als Mütter und Väter die Bildung in der eigenen Familie ernst nehmen: Offene Gespräche suchen mit unseren Kindern über Grenzen, Respekt, Gleichberechtigung. Ihre Medienkompetenz stärken, kriminelle und gewaltbezogene Inhalte reflektieren.

4. Zahlen, Daten, Fakten zum Thema „Frauen als Opfer von Gewalt“

Zum zweiten Mal nach 2024 legt das Bundeskriminalamt (BKA) ein Lagebild vor, das sich ausdrücklich mit geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen befasst. Dabei werden Verbrechen betrachtet, die primär Frauen betreffen: Sexualstraftaten, häusliche Gewalt, aber auch digitale Gewalt. Zusätzliche befasst sich die Analyse mit Hasskriminalität gegen Frauen (Taten mit frauenfeindlicher Motivation).

Von häuslicher Gewalt waren Mädchen und Frauen 2024 mit 70,4 Prozent deutlich häufiger betroffen als Jungen und Männer mit 29,6 Prozent. Umgekehrt waren Tatverdächtige von häuslicher Gewalt im vergangenen Jahr zu 75,6 Prozent männlich und zu 24,4 Prozent weiblich.

Karin Prien, Bundesfamilienministerin, erklärt dazu: „Wenn Sie das einmal umrechnen, bedeutet das, dass pro Stunde in Deutschland 15 Frauen von partnerschaftlicher Gewalt betroffen sind.“ Erschreckende Fakten – die zeigen, warum es weiter wichtig ist, auf Gewalt gegen Frauen aufmerksam zu machen.

5. Wie gehen wir als Evangelische Kirche und Diakonie in Essen mit dem Thema Gewalt gegen Frauen und Mädchen um? Was tun wir?

Sexualisierte Gewalt

Als Kirche nehmen wir unsere Verantwortung zur Prävention ernst. Ich bin dankbar über den Lernweg unserer Kirche beim Umgang mit und bei der Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt. Seit 2021 haben wir im Kirchenkreis Essen mit allen Gemeinden und Diensten Leitlinien verfasst und Schutzkonzepte entworfen.

Wir führen Schulungen durch. Es gibt im Kirchenkreis eine hauptamtliche Kraft für Präventionsarbeit auf allen Ebenen und für die Begleitung der Gemeinden. Bei ihr als Projektmanagerin liegt auch das Case Management von akuten Beratungsfällen und die Aufarbeitung grenzverletzender, übergriffiger Verhaltensweisen.

Hinzugekommen ist das Thema Aufarbeitung von Altfällen bis ins Jahr 1945 zurück. Diese Aufrage erfolgt derzeit durch ein Aktenscreening von ca. 7.000 Personalakten, auf die wir im Kirchenkreis Essen einen Zugriff haben. Durchgeführt wird das Aktenscreening durch derzeit sieben freiberuflich tätige, fachkompetent ausgebildete Honorarkräfte, die nicht mit dem Kirchenkreis in einem direkten Zusammenhang stehen.

Schulungen: alle hauptamtlich und ehrenamtlich Mitarbeitenden sind verpflichtet, an Präventionsschulungen teilzunehmen. Das ist mittlerweile in das Kirchengesetz zum Schutz vor sexualisierter Gewalt der EKiR aufgenommen worden. Diese Schulungen müssen in regelmäßigen Abständen (alle fünf, in manchen Bereichen alle drei Jahre) wiederholt werden.

Es war ein Lernweg für uns als Kirche, der damit begann, dass die Institution Kirche ihre Schuld in der Vergangenheit insbes. gegenüber Frauen eingestanden hat. Heute wage ich zu behaupten, dass wir in der Prävention gut aufgestellt sind – auch wenn die Presse dies gerne im „allgemeinen Kirchen-Bashing“ mitunter anders darstellt.

Wir als Kirche wollen damit zeigen: wir stehen an der Seite derer, die von Unrecht und Gewalt betroffen sind. Wir widersprechen jeder Gewalt im Großen wie im Kleinen und wirken ihr, so gut es geht, aktiv entgegen.

Hilfen für andere

Anlaufstellen: Neben den Seelsorger*innen in unseren Kirchengemeinden halten wir mit dem Diakoniewerk Essen spezielle professionelle Hilfsangebote vor für Frauen in Not.

Für wohnungslose Frauen sind niedrigschwellige Anlauf- und Beratungsstellen wichtig. Von Wohnungslosigkeit betroffene Frauen begeben sich häufig in Abhängigkeiten und Zwangsgemeinschaften, die für sie gefährlich sind.

Es gibt die Beratungsstelle für Schwangerschaft, Familie und Sexualität. Die Anlaufstelle der ökumenisch getragenen Bahnhofmission im Essener Hauptbahnhof. Und es gibt in unseren Kirchengemeinden und Jugendhäusern zahlreiche Mädchengruppen, in denen junge Frauen über ihre Probleme sprechen und Rat einholen können. Das Haus der Evangelischen Kirche ist Teil der bundesweiten Initiative „Kindernotinsel“, die sichere Orte für bedrohte Kinder und Jugendliche ausweist.

6. Zwei weitere bewährte Essener Hilfsprojekte

Die UN-Kampagne „Orange The World“ macht seit 1991 auf Gewalt gegen Frauen aufmerksam – und viele Kommunen, Kirchen, Vereine bei uns in Deutschland beteiligen sich. Zum Beispiel mit der orangefarbenen Bank mit Notfallnummern wie auch hier vor unserem Diakonie-Restaurant Church, gesponsort durch uns als Evangelische Kirche in Essen. Sie signalisiert klar und deutlich: Stopp Gewalt gegen Frauen. Danke an die Essener Clubs der Zontas und Soroptomistinnen für ihre Initiative.

Das Hilfsprojekt „Luisa ist hier“, das Frauen (und auch anderen Personen) in Bars, Kneipen, Clubs oder ähnlichen Lokalitäten helfen soll, wenn sie sich bedrängt, belästigt oder unsicher fühlen. Es funktioniert über ein Codewort: Wenn sich jemand unwohl fühlt oder belästigt wird, kann sie (oder er) zum Theken- oder Servicepersonal gehen und ganz einfach fragen: „Ist Luisa hier?“. Das geschulte Personal weiß dank einer vorherigen Schulung, was dieser Satz bedeutet. Sie reagieren diskret, ohne dass die fragende Person großartig etwas erklären muss.

Je nach Situation kann das Personal: einen sicheren Rückzugsort im Lokal anbieten (z.B. einen ruhigen Raum) oder: ein Taxi rufen, damit die Person sicher nach Hause kommt oder: eventuell die Polizei kontaktieren, je nachdem, wie akut die Lage ist. Ziel: Die Hemmschwelle soll gesenkt werden, Hilfe zu holen, besonders in lauter oder überfüllter Umgebung.

Zum Schluss: Unsere gemeinsame Mission!

Gewalt hat keinen Platz in unserer Gesellschaft. Wir brauchen nachhaltige Strukturen: Prävention, Unterstützung, Nachsorge, rechtliche Aufklärung und Sensibilisierung. Die Aktion „Gewalt kommt nicht in die Tüte“ ist ein wichtiger Baustein in der Präventionsarbeit!

Marion Greve
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Superintendentin Marion Greve ist in Essen Schirmfrau der diesjährigen Aktion „Gewalt kommt nicht in die Tüte“ und hielt die obenstehende Rede heute bei einem Empfang im Diakonie-Restaurant Church.

Die bundesweite Kampagne „Gewalt kommt nicht in die Tüte“ findet jährlich am 25. November anlässlich des „Internationalen Tags zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen“ statt. Die Aktion hat das Ziel, auf das Thema häusliche und sexualisierte Gewalt aufmerksam zu machen, es aus der Tabuzone zu holen und Betroffene über niedrigschwellige Zugänge zu Hilfsangeboten zu informieren. Als sichtbares Zeichen der Solidarität werden einen ganzen Tag lang Backwaren in speziell bedruckten Tüten ausgegeben. Darauf ist der Slogan „Gewalt kommt nicht in die Tüte“ aufgedruckt, zusammen mit wichtigen Kontaktinformationen und Notrufnummern für Betroffene, wie dem bundesweiten Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“.

In Essen beteiligen sich die Unternehmen Peter Backwaren OHG („Bäcker Peter“), Döbbe Bäckereien GmbH & Co. KG („Döbbe“), Troll Ökologische Backwaren GmbH („Troll“), Bäckerei M. u. K. Horsthemke GmbH („Horsthemke“), Bäckerei & Konditorei Holtkamp („Holtkamp“) und „Café Ruhrblick“ an der Aktion. Internet: „Gewalt kommt nicht in die Tüte“.

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