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Von Angesicht zu Angesicht

Michelangelo Buonarotti (1475 – 1564) bringt in seinem Gebet im Alter und beim Sterben, das in unserem Evangelischen Gesangbuch steht, seine Hoffnung auf die Ewigkeit zum Ausdruck: „Hilf mir, geduldig zu sein. Zeig mir dein Antlitz, je mehr mir alles andere entschwindet. Lass mich den Atem der Ewigkeit verspüren, nun, da mir aufhört die Zeit“ (vgl. EG 978).

Michelangelo bittet nicht: Gott, Vater, zeig mir dein Antlitz. Er bittet auch nicht: Gott, Sohn, Jesus Christus, zeig mir dein Antlitz. Aus seinem künstlerischen Schaffen heraus könnte man auf beides schließen. Wir wissen es nicht. In der christlichen Kunst-geschichte ist die Darstellung Jesu Christi neben der Darstellung der Gottesmutter Maria von den Anfängen bis in die Gegenwart das Kardinalthema schlechthin.

Sein Gebet verweist uns auf ein zentrales Thema der Theologie. Unser Blick richtet sich als erstes in die Heilige Schrift. Im Alten Testament ist der locus classicus, unter den vielen die klassische Stelle für dieses Thema, Jakobs Kampf bei Pniel (1. Mose 32,23-33). Ich folge Gerhard von Rads Übersetzung:

Und er stand in jener Nacht auf, nahm seine beiden Frauen, seine beiden  Mägde, seine elf Kinder  und überschritt die Furt bei Jabbok. Er nahm sie, brachte sie über den Fluss und brachte all` das Seine hinüber. Jakob blieb allein zurück; da rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte heraufzog. Als er sah, dass er ihn nicht übermochte, schlug er ihn auf sein Hüftpfanne, so dass sich die Hüftpfanne Jakobs ausrenkte, als er mit ihm rang.

Da sprach er zu ihm: „Lass mich los, denn die Morgenröte ist heraufgezogen“; er aber sagte: „Ìch lasse dich nicht, es sei denn, du segnest mich“. Da sprach er zu ihm: „Welches ist dein Name?“ Er sagte: „Jakob.“ Er sagte: „Dein Name soll nicht mehr Jakob sein, sondern Israel, denn du hast mit Gott und mit Menschen gestritten und bist Sieger geblieben.“ Und Jakob fragte und sprach: „Gib mir doch deinen kund.“ Er aber sagte: „Warum fragst du nach meinem Namen?“ Und er segnete ihn dort.

Und Jakob nannte den Ort Pniel, denn ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen, und mein Leben ward gerettet. Es ging ihm aber die Sonne auf, und er hinkte, als er an Pnuel vorüberging, an seiner Hüfte. Darum essen die Söhne Israels bis auf den heutigen Tag den Hüftnerv nicht, der an der Hüftpfanne ist, denn er hat Jakob auf die Hüftpfanne geschlagen (zitiert nach Gerhard von Rad: Das Alte Testament Deutsch, Göttingen 1961, Seite 278f.).

Das ist ein uralter Text. Die Pniel-Pnuelgeschichte geht der Begegnung Jakobs mit seinem Bruder Esau voran. Die Furt-Überführung im Jordan-Nebenfluss Jabbok ist eine schwere Arbeit. Dann beginnt das Schreckliche. Das Wort „Mann“ lässt alles offen. Der Kampf mit diesem blieb lange unentschieden, bis der geheimnisvolle Gegner Jakobs Hüfte berührt und sie ausrenkt. Dennoch lässt Jakob seinen Gegner nicht los, „es sei denn, du segnest mich“ (Vers 27). Jakob hat Riesenkräfte, wie das in alten Sagen öfter der Fall ist. Geheimnisvolle Götter und Dämonenwesen sind oft in ihrer Wirkungskraft an die Nachtzeit gebunden. So auch hier. Beim Anbruch des Morgens aber müssen sie verschwinden. Der um Segen ringende Mensch will dem geheimnisvollen Gegenüber göttliche Lebenskraft abringen. Jakob hat davon etwas begriffen.

Nicht nur wir fragen, wer ist das denn nun eigentlich? Diese Frage ist so alt wie die Geschichte. Der Griff nach Gott und seiner Segenskraft ist „urelementar“. Er steht vor der Gottlosigkeit. Doch der Gewährung geht eine gewichtige Frage voraus. Jakob muss sich fragen lassen, wer er denn sei. Der Name ist eben nicht Schall und Rauch. Im Namen ist immer schon vom Wesen des Namensträgers etwas enthalten. Das gilt bis zum heutigen Tag. Jakob muss sein ganzes Wesen offenbaren: Jakob heißt nämlich der Listige, der Betrüger. Er hat sich mit List den Erstgeburtssegen seines Vaters Isaak gegenüber seinem Bruder Esau erschlichen (vgl. 1. Mose 27). Er ist ein Betrüger.

Und jetzt kommt es in Vers 29: „Dein Name soll nicht mehr Jakob sein, sondern Israel, denn du hast mit Gott und Menschen gestritten und bist Sieger geblieben“. El ist die Abkürzung von Elohim = Gott. Isra kommt von sara = ringen, kämpfen. Aber damit ist noch nicht Schluss. Jakob dringt neugierig in sein Gegenüber: „Gib mir doch deinen Namen kund“ (Vers 30). Dieser antwortet mit einer Gegenfrage: „Warum fragst du nach meinem Namen? Und er segnete ihn dort“ (Vers 31). Vieles ist rätselhaft in dieser Geschichte. Später hat man in diesem nächtlichen Angreifer Jahwe selbst gesehen. Er handelt an Jakob. Jakob empfängt den Segen. Aber das größte Wunder ist für ihn, dass er Gott von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden hat, ohne dass es ihm den Tod gebracht hat. Denn Gott zu schauen bedeutet nach gemein-jüdischem Glauben den Tod (vgl. 2. Mose 33,20; Richter 6,22; 13,22; Jesaja 6,5).

Gerhard von Rad spannt diese Geschichte ein in den ganzen Rahmen der Geschichte Israels. „Israel hat hier fast prophetisch seine ganze Geschichte mit Gott als einen solchen Kampf bis zum Anbruch der Morgenröte dargestellt“ (Seite 284). Ein gewaltiger Satz zum Nachdenken.

Wir verlassen die hebräische Bibel und wenden uns dem Neuen Testament zu. Das hebräische Wort panim, mit dem pniel/pnuel zusammenhängt, heißt im Griechischen prósopon = Gesicht/Antlitz. Es begegnet zuerst bei Homer. In der griechischen Übersetzung des Alten Testamentes, der sogenannten Septuaginta, zählt man über 850 Stellen, in welchen dieses Wort vorkommt. Im Neuen Testament schätze ich etwa 80 Mal. Und da gibt es für mich auch eine klassische Stelle, einen locus classicus, nämlich im Hohelied der Liebe des Apostels Paulus.

Paulus beschreibt im 1. Brief an die Korinther in Kapitel 13 in unnachahmlicher Weise die Liebe in Zeit und Ewigkeit; sie ist für ihn der „ausgezeichnetere Weg“ (1. Korinther 14,31b) im „Hier und Jetzt“ und im „Dann“. Es ist also nicht nur ein klassischer Text für die Trauung. Das berühmte Kapitel endet bekanntlich mit dem Dreiklang: „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen“ (Vers 13).

Der vorangehende Vers lautet: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin“ (Vers 12). Bei diesem schwer zu verstehenden Vers helfen uns die Exegeten, die Auslegenden – wozu sind sie sonst da?!

In der jüdischen Tradition – so habe ich gelernt- ist das Schauen im Spiegel eine Redeform für das Teilhaben an der göttlichen Offenbarung, wofür es viele Beispiele gibt. Diese teile ich aus Gründen für die Länge der Beiträge nicht mit. Da der Apostel den Plural wir schreibt, ist er der Meinung, dass „seine geliebte“ und „schwierige“ Gemeinde in Korinth dazu durchaus fähig ist. Doch was wir sehen, ist ein dunkles Bild. Wie steht das bei uns heute? Es geht ihm ja um die Liebe!

Mir kommt es aber auf drei andere, kurze Worte an: jetzt und dann. Was sehen wir jetzt? Ein dunkles und verschwommenes Bild; wir sehen nur indirekt. Dazu steht die zukünftige Erkenntnis in totalem Gegensatz. Und natürlich das folgende „von Angesicht zu Angesicht“.

Wie verstehen wir dies? Der Apostel erklärt es uns an anderer Stelle selbst: „Nun aber schauen wir alle mit gedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wie in einem Spiegel, und wir werden verklärt in sein Bild von einer Herrlichkeit zur anderen von dem Herrn, der der Geist ist“ (vgl. 2. Korinther 3,18). Mit dem Herrn meint Paulus natürlich Jesus Christus, der der Geist, also gegenwärtig ist. Und das können wir getrost auf das Hohelied der Liebe im Jetzt beziehen. Jesus erfüllt als einziger die schweren Anforderungen an die Liebe. Hier stehen wir dem anderen gegenüber, wenn wir in der „geselligen Liebe“ (Kurt Marti) uns begegnen, wie es uns unser Herr aufträgt (vgl. Matthäus 22.34ff.; „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Vers 39).

Und nun kommt das aktuelle „im Jetzt“ ins Nachdenken. Was heißt heute in Zeiten der pandemischen Krise: „von Angesicht zu Angesicht“? Unsere Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) denkt nicht nur über die drastisch sinkende Kirchenmitglieder-Zahl, die sinkenden Steuermittel nach, sondern vor allem darüber, wie die „evangelische Vielfalt“, das heißt das Evangelium durch uns gerechtfertigte, glaubende, sündige Gemeindeglieder erhalten werden kann und wird.

Vor sechs Jahren, 2014, verabschiedete die EKD-Synode ein Papier „Kommunikation des Evangeliums in der digitalen Gesellschaft“. Total einseitig wird darin behauptet: „Nicht physikalische Nähe, sondern Kommunikation (digitale ist natürlich gemeint – Anmerkung von mir) ist wesentlich.“ Das wird man heute in der Zeit der Pandemie nie mehr so zu sagen wagen.

Heute, 2020, heißt der letzte Satz eines EKD-Papiers „Elf Leitsätze für eine aufgeschlossene Kirche – Kirche auf gutem Grund“ gut ausbalanciert so: „Bei der Klärung kirchlicher Zukunftsprozesse leitet uns darum die Frage, was Kommunikation des Evangeliums nach innen und außen unter den sich verändernden Bedingungen der Gegenwart dient und was nicht“.

Bevor wir uns wieder dem Apostel Paulus zuwenden, blicken wir in eine Legende mit einem tiefen Wahrheitsgehalt, gerade auch für unsere Zeit. Die Orthodoxe Akademie auf Kreta (vgl. dazu meinen Beitrag in diesem Blog „Europa – zweite Heimat“) startete 1983 ein interessantes Projekt. Ein antiker, legendärer Text sollte Künstler aus aller Welt zu künstlerischer Gestaltung animieren. Die Legende handelt vom Heiligen Makarios, einem berühmten Mönchsasketen im Ägypten des 4. Jahrhunderts, sie lautet wie folgt:

Eines Tages traf Abbas Makarios bei einem Spaziergang in der Wüste auf einen Totenschädel. Es ergab sich folgender Dialog: Makarios: „Wer bist du“? – Schädel: „Ich war Priester unter den Heiden. Wenn du für uns, die wir in der Hölle sind, betest, erfahren wir eine große Erquickung“. – Makarios: „Wie ist die Hölle, welche ist die Erquickung“? – Schädel: „Wir stehen inmitten von himmelhohen Flammen und leiden Qualen. Deren schlimmste aber ist, dass wir Rücken an Rücken gefesselt sind und das Gesicht des anderen nicht sehen können. Das ist die eigentliche Hölle. Wenn du aber betest für uns, lockern sich die Fesseln und wir können uns einander wieder ansehen von Angesicht zu Angesicht. Das ist unsere Erquickung.“

Der Existenzialist Jean-Paul Sartre sagt im 20. Jahrhundert: „L´enfer c´est l´autre“ = „Der Andere ist meine Hölle“. Der christliche Glaube sagt das Gegenteil. Nicht die Anwesenheit, sondern die Abwesenheit des Anderen, des Fehlen des von Angesicht zu Angesicht, die fehlende Kommunikation, die Einsamkeit ist, was „Höllenqualen“ bereitet.

Wir kehren zum Apostel zurück. Der Skopus, das heißt das eigentliche Ziel des theologischen Nachdenkens, ist bei Paulus nicht das fragmentarische, bruchstückhafte Erkennen im Hier und Jetzt, sondern im Dann, in der Zukunft, in der Ewigkeit.

Zunächst aber eine aktuelle Variante des griechischen Wortes für Angesicht, Antlitz. Es heißt: prósopon. Und dieses Wort bedeutet zweitens: die Maske. Der griechische Schauspieler (nur Männer!) trägt diese im Blick auf sein tragisches oder komödiantisches Aussehen und aus Gründen der Akustik für die großen griechischen  und später römischen Theater. Und jetzt kommt der Knüller: in hellenistisch-neutesta-mentlicher Zeit heißt dieses Wort im Lateinischen: persona. Persona hängt mit dem Verb personare zusammen; das heißt: seine Stimme erschallen lassen, durch und durch tönen. Kommt uns das heute in der Pandemie-Krise nicht bekannt und vertraut vor, mit unseren Masken?

Mit dem Begriff Person eröffnet sich ein weites, riesiges Feld der Theologie, der Philosophie, der Anthropologie, des Rechts und der Ethik und des immer aktuellen Personenkults. Das müssen wir alles lassen; denn Lassen ist oft das höchste Tun.

Paulus denkt eschatologisch, das heißt mit dem Blick auf das Letzte, nicht nur auf das Vorletzte (Bonhoeffer). In seinem großen Auferstehungskapitel (vgl. 1. Korinther 15) zitiert er sich selbst, wenn er die Zeugen der Auferstehung nennt: „…dass er gesehen worden ist von Kephas, danach von den Zwölfen. Danach ist er gesehen worden von mehr als 500 Brüdern auf einmal, von denen die meisten noch heute leben, einige aber sind entschlafen. Danach ist er gesehen worden von Jakobus, danach von allen Aposteln. Zuletzt von allen ist er auch von mir als einer unzeitigen Geburt gesehen worden (vgl. Vers 5 ff.).

Das bezieht sich nicht auf seine Berufung vor Damaskus (vgl. Apostelgeschichte 9). Es heißt dort: Er und seine Gefährten sahen nichts (Verse 7-8). „Sie hörten zwar die Stimme, aber sahen niemanden.“

Wer erfahren will, wie Paulus in der Sehnsucht nach der himmlischen Heimat lebt, der lese in Ruhe 2. Korinther 5. Ausdrücklich und klar sagt er dort: „…wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen (Vers 7). „Nach dem Fleisch kennen wir ihn (den historischen Jesus – Anmerkung von mir) jetzt so nicht mehr.“ (Vers 16b) Das ist ein großes Problem für den Apostel gewesen! Er hat ihn nie wie Petrus und anderen Jünger kennengelernt.

Jetzt kehren wir wieder zu unserer klassischen Stelle „von Angesicht zu Angesicht“ zurück (vgl. 1. Korinther 13). Die Worte árti = jetzt und tóte = dann sind ihm immens wichtig; er wiederholt sie zweimal! „Jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin“ (vgl. Vers 12). Wie Paulus sein erkannt sein versteht, erfahren im ersten Vers des Römerbriefs: „Paulus, ein Knecht Jesu Christi, berufen zum Apostel, ausgesondert zu predigen das Evangelium Gottes.“

Wen will er in der EWIGKEIT (dann) erkennen?

Kýrios Jesóus Christós (Philipper 2,11). Und das Angesicht Gottes, das den Blicken der Menschen verborgen ist, das seinen Knechten in der Vollendung zuteilwerden wird (Offenbarung 22,4). Das heißt nach allem: unser Glauben und stückweises Schauen und Reden ist jetzt nur unvollkommen. In der zukünftigen Vollendung wird es erst vollkommenes Schauen und wirkliche Erkenntnis geben.

Da liegen der Apostel, der große Künstler Michelangelo (vgl. sein Gebet, zu Beginn dieses Beitrags) und wir im Glauben nahe beieinander.

Eckhard Schendel