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Habt Mut zur Veränderung!

500 Jahre Reformation – mit Blick auf den revolutionären Mönch aus dem 16. Jahrhundert eröffnet die Evangelische Kirche das Festjahr zum Reformationsjubiläum. Aber: Darf überhaupt eine Kirche feiern, deren Mitgliederzahlen rückläufig sind? Die nicht länger Volkskirche ist, sondern eine Minderheit der Gesamtbevölkerung abbildet, für die Glauben, Kirche und Gott wenig Relevanz hat?

Ich persönlich halte gerne dagegen: ja – wir haben allen Grund zu feiern. Im Mittelpunkt steht für mich die Lerngeschichte einer Kirche, die veränderungserfahren und veränderungsmutig ist.

Habt Mut zur Veränderung: es ist diese Botschaft, die Luther uns heute zuruft. Gewissensfreiheit, Interpretationsfreiheit, Unabhängigkeit von der Deutungsmacht papsttreuer Theologen und die Gleichheit vor Gott – das waren die Erkenntnisse, die Luther in die Debatten seiner Zeit einbrachte. Im 21. Jahrhundert feiern wir kein heldenverehrendes Lutherjubiläum, sondern wir feiern, dass wir die Judenfeindschaft überwunden haben. Wir feiern, dass gerade in einer Zeit des Fundamentalismus Glaube und Bildung zusammengehören. 500 Jahre später wissen wir als Protestanten und Katholiken: Es ist gut, gemeinsame Wege nach vorn zu gehen.

Wir feiern also, dass wir eine Lerngeschichte der Reformation haben und nicht bei 1517 stehengeblieben sind. Wo müssen wir heute den Grenzübertritt wagen, um die Botschaft von der freien Gnade Gottes an alles Volk auszurichten? Welche neue Sprache und Spiritualität müssen wir lernen, damit der Geist Gottes wirken kann? Reformation ist kein Zustand, sondern eine Bewegung, ein Prozess, den wir alle gemeinsam gestalten. Jede Kirche, gleich welcher Konfession, ist semper reformanda – immer neu zu reformieren.

Entdecke die Bibel – entdecke, was Christum treibet: das ist die zweite Botschaft, die Luther uns heute zuruft. Die Bibelübersetzung Luthers stand für ein emanzipatorisches Programm. Zum einen sollten Gläubige die Heilige Schrift selbst lesen und selbst auslegen können. Zum anderen ging es um eine grundsätzliche Neudefinition des Christseins: Ohne kirchlich-institutionellen Segen könne jeder der Gnade Gottes teilhaftig werden. Wenn es um das Heil geht, ist jede und jeder Einzelne gefragt. Die Reformation hat auf dem Weg zur Moderne die Autonomie des Ichs hervorgebracht. Dass nicht nur in Kollektiven gedacht wird, sondern autonom. Sein Menschenbild schloss Freiheit und Mündigkeit ein; zugleich forderte er, verantwortungsbewusst mit dieser Freiheit umzugehen!

In der allgemeinen Suche nach Orientierung heute, kann die Rückbesinnung auf die Bibel neue Kraft freisetzen. Das eigene Lesen in der Bibel, die Rückbesinnung auf die Bibel gibt Impulse dafür, was es heißt, sich gemeinsam mit vielen anderen für die Heiligkeit Gottes und die Würde des Menschen einzusetzen. In unserer Zeit, in der alles immer schneller und effektiver geschehen soll, halte inne, nimm dir Zeit für Gott, für die Menschen und für dich selbst.

Das aktuelle Erscheinen der revidierten Lutherbibel ist eine gute Gelegenheit, in die eigene Bibellese einzusteigen. Auch als App (bis zum Reformationstag 2017 ist sie als Gratis-Download erhältlich) enthält sie den vollständigen Text sowie die Gelegenheit, einen persönlichen Bibelleseplan einzurichten. Alleinige Richtschnur, wie ein biblischer Text ausgelegt werden darf, ist Jesus Christus selbst. Das heißt doch, dass wir all unsere Aktivitäten hinterfragen sollten: Kommt die Botschaft von Jesus Christus in unserem Tun und Handeln zum Ausdruck? Spiegelt sich der Geist des Evangeliums in unseren Gruppen und Kreisen, in der Seelsorge und im Umgang mit der Vielfalt der Menschen, Religionen und Kulturen wider?

Hab Mut zur Veränderung und entdecke, was Christum treibet: aus dieser reformatorischen Botschaft höre ich den Auftrag heraus, unsere bestehenden kirchlichen Angebote und Gottesdienstformen, daraufhin zu hinterfragen, ob wir mit ihnen die Menschen in unserer Stadt erreichen. Wie können wir heute, im 21. Jahrhundert, in einer modernen und multikulturellen Stadtgesellschaft die Liebe Gottes für alle Menschen erfahrbar machen?

Mit dieser Frage hat sich die Evangelische Kirche Essen vor zwei Jahren in einem groß angelegten Konzeptionsprozess auf den Weg gemacht: weit über 200 Menschen waren aktiv am Prozess beteiligt und haben ihre Ideen und Erfahrungen eingebracht, die nun zu einer neuen Grundlage für eine zukunftsfähige, lebendige Kirche in Essen führen. Ein Prozess mit breiter Beteiligung – getragen von dem Mut zur Veränderung, den Luther uns zuruft. Für diesen reformatorischen Auftrag brauchen wir auch heute wandlungsbereite Menschen, die eine Vision vor Augen haben, die weit über das Bestehende hinausgeht.

Bleibt natürlich die Frage: Was machen denn wandlungsbereite Menschen im Kern aus? In Erinnerung an Martin Luther hoffe ich weiterhin auf Menschen mit dem Glauben daran, dass die bestehenden Verhältnisse nicht alternativlos sind. Frauen und Männer mit Mut, Autonomie, Sprachfähigkeit, Beweglichkeit und Wachsamkeit . Wohl wissend, dass Menschen, die aufbrechen – Organisationen, die aufbrechen und Neues wagen –, immer das Risiko eingehen, Fehler zu machen.

Gehen wir also auf das Jubiläumsjahr 2017 zu – fröhlich und offen für das, was Gott mit uns vorhat. Voller Lust auf theologische Diskussionen über Reformation und Freiheit – mit der Absicht, unsere protestantische Identität nicht gegen Andersdenkende in Stellung zu bringen, sondern sie als Voraussetzung eines solidarischen Zusammenlebens zu begreifen!

Gut protestantisch, nach bestem Wissen und Gewissen.

Marion Greve