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O mein Papa

Es war ein Artikel in einer Frauenzeitschrift, der mich, so viele Jahre nach dem Tod meines Vaters, mit ungeahnter Wucht traf! Eine Frau erzählte, wie sie bei der Recherche in ihrer Vergangenheit abgründigen Aspekten aus dem Leben ihres Vaters begegnete – und sich nun schmerzhaften Fragen stellen musste.

Mein Vater war jemand, wie es viele gab in meiner Kindheit: eigentlich nie anwesend. Er arbeitete viel, fast ununterbrochen – in der Woche im Betrieb, am Wochenende auf irgendeiner Baustelle oder zuhause im Werkstattkeller. Er trug in meinen Kindheitserinnerungen vor allem diesen grauen Hausmeisterkittel mit den vielen praktischen Taschen. Er schaffte das Geld heran, das uns den Aufstieg aus der Arbeiterklasse in den Vorort mit Reihenhaus ermöglichte.

Meine Erinnerungen sind von meiner Mutter und Großmutter beherrscht, die alles für mich waren: Versorgerinnen, Erzieherinnen, Erfüllerinnen meiner Wünsche – und Feindinnen, wenn meine Wünsche nicht erfüllt wurden. In ihren Gesprächen lernte ich auch, wer mein Vater ist: der Herbert, dem die Großmutter dankbar dafür war, dass er sie ins Haus aufnahm – sie, eine Witwe fast ohne Einkommen. Für den sie kochte, wie man für Männer kocht: mit viel Fleisch und dicker brauner Soße (obwohl mein Vater nie auf dem Feld gearbeitet hatte wie die Männer in der Kindheit meiner Oma, bei denen man als Frau dafür sorgen musste, dass sie bei Kräften blieben).

Für meine Mutter war er – der Mann, den sie geheiratet hatte, weil die erträumte romantische Liebe ausblieb und ihr die Zeit weglief für Familie und Kinderkriegen und eine Biografie der durchschnittlichen Sehnsüchte. Der Mann, dem sie dankbar war, dass er keine großen Ansprüche mehr stellte, nachdem ich geboren worden war.

Mir hat das über viele Jahre genügt. Ich habe keine Fragen gestellt, wer mein Vater denn wirklich war. Welche Sehnsucht er hatte, wie es ihm ging in diesem verschworenen Frauenhaushalt – und warum es ihm unbedingt so wichtig war, dass der Dackel, den sie sich anschafften, ein Rüde war.

Ich habe nie gefragt, wer mein Vater vor der Zeit war, in der er Familienvater wurde. Jahrgang 1926 – eingezogen als Schulkind, Kriegsgefangenschaft – er hat nicht erzählt. In der Schule habe ich jahrelang die deutsche Vergangenheit aufgearbeitet – aber meinen Vater habe ich nie wirklich damit in Zusammenhang gebracht. Was er wohl erlebt hat in den Nächten der Angst? Was er getan hat unter dem Druck des Überlebenskampfes?

Mein Vater starb so geräuschlos, wie er gelebt hat in meinen Erinnerungen. Fiel tot um im Urlaub. Machte uns nicht einmal hier Stress. Irgendwann löste meine Mutter das Familiengrab auf, in dem er beigesetzt war. Nun gibt es nicht einmal mehr den Gedenkstein mit seinem Namen.

Ich schäme mich heute, dass ich ihm nie mehr Leidenschaft entgegengebracht habe, als er noch lebte. Ich bedaure, dass ich ihn nicht kennenlernen wollte. Ich vermisse ihn jetzt, wo ich älter werde, sehr.

Eine Erinnerung aber habe ich, die mich versöhnt und mich lächeln macht: jedes Jahr am Totensonntag, wenn wir zu den Gräbern der Verwandten gingen, stand auf seinem Grab eine frische rote Rose. Von meiner Mutter war sie nicht.

Wir haben nie gefragt, wer sie so treu, über viele Jahre hinweg, dorthin brachte. Ich aber weiß heute: es gab jemanden, der ihn gekannt hat und der ihn liebte.

Gott sei Dank.

Anke Augustin

2 Gedanken zu „O mein Papa

  1. …als meine Mutter starb, war ich im Urlaub. Kurz vor der Abreise war sie ins Krankenhaus gekommen, es sah nicht ganz so gut aus. Meinem Vater war es aus irgendeinem Grund wichtig, dass ich sie vor meinem Urlaub noch einmal dort besuchte, und so geschah es auch. Mit einem unguten Gefühl fuhr ich ab, mich selbst beruhigend: Es wird schon wieder besser. Wurde es aber nicht, wir waren noch nicht ganz im Ferienort angekommen, kam die Nachricht von ihrem Tod, per Handy. Hätte ich es nicht ahnen können, wissen müssen? Das Abschiednehmen wäre dann anders ausgefallen. Das beschäftigt mich noch heute immer mal wieder.

  2. Ja, es ist schon erstaunlich wie bedeutend ein Mensch werden kann, wenn sich sein Leben zu Ende neigt, oder wenn er gar schon gestorben ist. Die langwierigen, harten Reibungsflächen werden glatter, der Blick zurück barmherziger.
    Das mein Vater mit seinem Geiz allen auf die Nerven ging – nebensächlich, fast belustigend. Das meine Mutter im Kochwettbewerb garantiert den letzten Platz belegt hätte, das sie unübertroffen unstrukturiet war – alles kann ich heute belächeln. Dagegen treten ihre Stärken, ihre liebenswertenSeiten immer deutlicher in den Vordergrund.

    Kann es sein, dass mit den Jahren die steigende Anzahl eigenen Fehlverhaltens und dass zunehmend eigene schuldig werden nachsichtiger macht?
    Auf jeden Fall wird angesichts des Todes – auch des eigenen – so vieles unwichtig. Zorn oder nachtragen verbittert. Nachsicht und vergeben gibt Frieden.
    „Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf das wir klug werden“. Psalm 90,12

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