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Erwin fehlt! oder: Plädoyer für die Volkskirche

Erwin kam sonst immer zum Kirchencafé, das unsere Gemeinde sonntags anbietet. Oder zum Seniorenfest. Und zum Gottesdienst. Seit seine Frau verstarb, ist die Gemeinde Erwins neue Heimat geworden – Ort für Trost, Ablenkung, Kontakte, Unterstützung.

Selbstgebackenen Kuchen im Kirchencafé isst er mit Leidenschaft. Es durften auch schon mal ein paar mehr Stückchen sein, als seine Diabetes eigentlich erlaubt.

Die Kerze für seine Frau steckt er in jedem Gottesdienst an, dabei hat er Tränen in den Augen. Anschließend geht es ihm besser. Dann erzählt er vom letzten Arztbesuch und vom Neffen, der wenig Zeit hat.

Erwin geht morgens zum Friedhof und nachmittags zur Kirche – oder umgekehrt. Eine Routine, die ihm Halt gibt. Jahrelang.

Ich habe nicht bemerkt, dass er schon drei Mal gefehlt hatte.

Ich war ja beschäftigt mit so vielen Dingen: Sitzungen, Verhandlungen, Gesprächen, Vorträge und Predigten schreiben…

Aber Wolfgang hatte es bemerkt. Wolfgang macht mit im Kirchencafé-Team und kennt alle seine Gäste.

Und Wolfgang kümmerte sich, er rief Erwin an und erfuhr: es geht ihm schlecht. Er kann kaum noch laufen. Er schafft den Weg zur Kirche nicht mehr. Auch nicht mehr mit dem Bus. Das Einsteigen ist zu mühsam, das Gewackel bei der Fahrt macht ihm Angst.

Erwin kann nicht mehr kommen. Vielleicht im Sommer wieder, wenn das Wetter besser wird – vielleicht.

Und Wolfgang erzählte es mir. Hör mal, Pastorin, was ich dir sagen will: Bitte kümmere dich um Erwin. Der wartet auf ein Signal von dir – zeigt ihm mal, dass du ihn vermisst. Dass er fehlt. Schick mal eine liebe Karte. Geh mal hin zu Besuch. Das wird ihm gut tun. Ich tat, was Wolfgang mir geraten hatte. Erwin hat sich wirklich kolossal gefreut.

Aber vor allem: ich bin so stolz auf „meine Gemeinde“! Es funktioniert noch, das „Kirche sein“: ein Glied gibt Acht auf das andere. Einer sorgt sich, fühlt sich zuständig, schaut hin – ganz im Kleinen und so voll Menschlichkeit. Seelsorgende Gemeinde – kein Arbeitstitel in Konzeptionsdiskussionen, sondern erfahrbare Wohltat für uns alle.

Und für mich wird auf diese Weise auch gesorgt. Das Hirtenamt muss ich nicht allein wahrnehmen! Andere geben mir Hinweise, stupsen mich an, fühlen sich mir so nahe, dass sie mich offen ansprechen, auch mit kritischen Beobachtungen. Wie gut das tut.

Mein Vertrauen in die Volkskirche muss ich nun also doch noch nicht aufgeben. Das beruhigt mich sehr. Das macht mich froh!

Seit ich Verantwortung trage in der Kirche, bin ich eine Anhängerin der Volkskirche. Bin überzeugt davon, dass eine bunte Vielfalt von Angeboten auf allen möglichen Ebenen den rechten Resonanzboden schafft für die Botschaft von der Fülle des Lebens. Möchte Angebote schaffen für alle Lebensbereiche aller Menschen aus den unterschiedlichsten Milieus, mit unterschiedlichen Sehnsüchten und Erfahrungen, Ausdrucksformen und Kommunikationsstilen.

Doch es mehren sich die Stimmen, die darauf drängen, unsere Kirche möge sich auf das „Wesentliche“ besinnen – Reduktion statt Fülle, Tiefe statt Weite, konturierte Profile statt bunter Bilder.

Irritiert durch die sinkenden Zahlen der Gottesdienstbesucher, die Kirchenaustritte, die Notwendigkeit, mit meiner Gemeindearbeit im Wettbewerb zu stehen um Anteile auf dem Freizeitsektor… frage auch ich mich beständig: hat das Volkskirchenmodell vielleicht doch ausgedient? Ist es eventuell doch nicht mehr zukunftsfähig?

In Zeiten der knappen Ressourcen – geht da vielleicht die Volkskirche einfach nicht mehr?

Natürlich ist diese Frage nicht abschließend geklärt. Auch für mich nicht – aber: Wolfgang jedenfalls hat mir fürs erste meine Leidenschaft für die Volkskirche zurückgegeben. Im ganz Kleinen, im ganz und gar Unwesentlichen – beim Kaffeetrinken im Nebenraum der Kirche – da zeigt Volkskirche, was sie kann: sie kann das Evangelium leben.

Für jetzt reicht mir das völlig, um weiter an ihre Kraft zu glauben und meinen Teil dazu zu tun, sie zu befördern!

Anke Augustin

2 Gedanken zu „Erwin fehlt! oder: Plädoyer für die Volkskirche

  1. Danke für diese liebevollen und aufbauenden Worte !
    Ich gebe Ihre Wertschätzung auch an „unseren Wolfgang“ weiter !
    Meine Mitarbeiter/innen in der KG sind allesamt Juwelen und Goldstücke! Ohne sie gelingt nichts. Und so ist Kirche ja auch gemeint : gemeinsam unterwegs sein und die Fülle des Lebens teilen und genießen! Liebe Grüße aus Dellwig

  2. Liebe Frau Augustin,
    auf Ihren Artikel wurde ich aufmerksam durch einen Hinweis eines Freundes aus unserem Hauskreis. Ich bin so dankbar für Ihre Gedanken, denn genau an dieser Achtsamkeit fehlt es in unseren Gemeinden. Wir versuchen dies zu leben in unserem Frauenfrühstückskreis, den Sie kennen gelernt haben. Aber ohne den Rückhalt der Gemeinde ist diese Arbeit nicht leicht. Ich möchte mich geborgen fühlen in unserer Gemeinde, wie ich es aus meiner Kindheit kenne. Danach sehne ich mich und viele andere Menschen auch. Vielleicht können wir darüber noch einmal miteinander ins Gespräch kommen. Herzlichen Dank!

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