„Mein Vater liegt im Sterben. Könnten Sie bitte kommen und ihm die letzte Ölung geben? Ich weiß ja nicht, ob Sie als evangelische Pfarrerin so etwas machen. Mein Vater ist evangelisch. Vielleicht könnten sie ihn ja sonst auch einfach nur segnen?“ So fragte mich vor einigen Monaten eine Anruferin. „Gerne komme ich!“, antwortete ich.
Solche Anfragen kommen bei uns Seelsorgerinnen und Seelsorgern im Gemeindedienst leider viel zu selten an, finde ich. Darum ist es mir wichtig, hier einmal davon zu erzählen. Vermutlich ist es den meisten Menschen gar nicht bekannt, dass sie am Sterbebett eines geliebten Angehörigen nicht allein bleiben müssen: wir kommen zu den Sterbenden nach Hause, wir kommen auch ins Krankenhaus oder in ein Pflegeheim, wenn es in erreichbarer Nähe ist.
In der Evangelischen Kirche haben wir zwar nicht das Sakrament der „letzten Ölung“, aber auch bei uns gibt es die Möglichkeit einer Sterbebegleitung und die kann ganz unterschiedlich aussehen. Manchmal ergeben sich intensive Gespräche mit den Angehörigen, manchmal möchten Sterbende Unbewältigtes aus der Vergangenheit ansprechen, eine Last loslassen. Vertraute Gebete oder Lieder können gesungen und auch das Abendmahl kann gefeiert werden – wenn es gewünscht ist. Ein Segen für den sterbenden Menschen gehört immer dazu. Doch auch wenn ein Mensch schon verstorben ist, kann eine Aussegnungsfeier mit den Angehörigen gestaltet werden.
Immer wieder habe ich erlebt, wie dankbar Angehörige waren, dass jemand einfach nur da war und durch Zeichen der Nähe und Verbundenheit Trost und Segen spendete. Gerade auf dem letzten Wegstück möchten Menschen ihren Liebsten gerne noch etwas Gutes tun – doch so viel ist da oft gar nicht mehr zu tun – außer bewusst Abschied zu nehmen und da zu sein.
Noch am Nachmittag desselben Tages stand ich gemeinsam mit der Anruferin und deren Mann und Tochter am Sterbebett des Vaters, Schwiegervaters und Großvaters. Die Vorhänge waren ein wenig zugezogen, so dass das Zimmer in einem Dämmerlicht lag. Wir zündeten eine Kerze an und lauschten eine Zeit lang den unruhigen und lauten Atemgeräuschen des Sterbenden.
Die Familie erzählte in gedämpftem Ton ein wenig über die zurückliegenden Wochen. Darüber, wie anstrengend dieses letzte Wegstück gewesen war, aber auch von ihrer großen Dankbarkeit, den Vater mit Hilfe eines palliativen Pflegedienstes zu Hause begleiten zu können. Die Tochter erinnerte daran, dass am nächsten Tag der 60. Hochzeitstag ihrer Eltern gewesen wäre. Die Mutter war bereits vor 13 Jahren gestorben. Wir fanden den Trauspruch der beiden auf der Heiratsurkunde und ich las ihn laut vor.
Dann sangen wir miteinander einen Choral aus den Gesangbüchern, die ich mitgebracht hatte. Kaum war die erste Strophe beendet, konnten wir deutlich merken, dass die Atmung des Sterbenden immer ruhiger wurde. Auch unser gemeinsames Gebet und die Worte des Segens bewirkten nochmal eine tiefere Entspannung. Am frühen Morgen seines 60. Hochzeitstages ist der Vater dann ganz friedlich verstorben und zwei Wochen später haben wir ihn neben seiner Frau beerdigt.
Jede Sterbebegleitung, zu der ich bisher angefragt wurde, habe ich als ganz tiefen und besonderen Moment erlebt und ich kann nur Mut dazu machen, uns als Seelsorgerinnen und Seelsorger nach diesem christlichen Dienst der Begleitung am Lebensende anzufragen.
Susanne Gutjahr-Maurer