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Ein jeder sehe auf das, was dem anderen dient

Tut nichts aus Eigennutz oder um eitler Ehre willen, sondern in Demut achte einer den andern höher als sich selbst, und ein jeder sehe nicht auf das Seine, sondern auch auf das, was dem andern dient. (Philipper 2,3-4)

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber bei mir haben diese Verse aus dem Brief, den der Apostel Paulus an die Philipper schreibt, so richtig gesessen! Ich finde mich so gar nicht darin wieder, weil ich im Moment auf Krawall gebürstet bin. Denn in dem Heim, in dem meine Schwester lebt, läuft es gerade nicht so rund, und das bringt mich ganz ordentlich auf die Palme. Da bin ich gar nicht einmütig und liebevoll, da bin ich – positiv formuliert – höchst engagiert, da kämpfe ich. Und es ist mir am Ende auch nicht wichtig, ob die Menschen mich dort mögen oder nicht. Meiner Schwester soll es gutgehen. Um das zu erreichen, bin ich im Moment so gar nicht handzahm, wie eine Bekannte das nennen würde, sondern richtig rebellisch.

In diese Stimmung hinein also dieser Text, der mich jäh auszubremsen scheint, zumindest ins Stolpern bringt, nachdenklich macht und mich auch kritisch hinterfragt. Um wen geht es hier, wenn du kämpfst? Geht es wirklich um Nedde, meine Schwester, oder doch um mich selbst? Geht es um Verbesserungen für Nedde oder um die eigene Ehre?

Dass dieser Text bei mir so eingeschlägt, ist eigentlich komisch. Denn zunächst ist es doch ein ganz sanfter Text, eine fast zärtliche Ermahnung von Paulus, eine liebevolle Aufforderung an eine seiner Gemeinden. Und diese Gemeinde ist doch eigentlich schon ganz toll! Liebe, Barmherzigkeit, Gemeinschaft des Geistes herrschen vor, Gott hat ihnen gute Bedingungen geschaffen, die Beschreibung der Gemeinde klingt richtig gut; und dann setzt Paulus am Ende noch einen obendrauf, damit es dort erst richtig gut bzw. seine Freude dadurch vollkommen wird:

Ist nun bei euch Ermahnung in Christus, ist Trost der Liebe, ist Gemeinschaft des Geistes, ist herzliche Liebe und Barmherzigkeit, so macht meine Freude dadurch vollkommen, dass ihr eines Sinnes seid, gleiche Liebe habt, einmütig und einträchtig seid. Tut nichts aus Eigennutz oder um eitler Ehre willen, sondern in Demut achte einer den andern höher als sich selbst, und ein jeder sehe nicht auf das Seine, sondern auch auf das, was dem andern dient. (Philipper 2,1-4)

Seid eines Sinnes, habt gleiche Liebe, seid einmütig und einträchtig. Tut nichts aus Eigennutz oder um eitler Ehre willen, sondern in Demut achte einer den andern höher als sich selbst, und ein jeder sehe nicht auf das Seine, sondern auch auf das, was dem andern dient.

Vielleicht liegt es wirklich an meiner Stimmung im Moment, aber das klingt doch alles zu schön, um wahr zu sein. In einer Zeit, in der Präsidenten ein ganzes Volk dazu auffordern können, zuallererst nur an sich selbst zu denken, und viele begeistert da einstimmen und andere damit anstecken, in einer Zeit, in der Banken damit werben, dass man seine eigenen Schäfchen ins Trockene zu bringen habe, und Politiker angefeindet werden, die die Hilfe für andere auf ihre Fahnen geschrieben haben, ist es nicht so leicht, gerade über diesen Text zu predigen, weil er so ein Gegengewicht dazu darstellt.

Ich bin lange schwanger gegangen mit diesem Text, der trotz seiner Lieblichkeit eben auch für mich so sperrig ist; ich habe ihn – sozusagen – immer wiedergekäut und wirklich überlegt, wo ich ihn in meinem Leben verorten kann, wo ich so etwas schon einmal erlebt habe, damit der Text anschaulicher und vielleicht auch realistischer wird.

Und tatsächlich ist mir eine Zeit in meinem Leben eingefallen, in der dieser Text gelebt wurde. Eine Zeitlang bin ich einmal im Jahr zum Schweigen gefahren. Von Montagabend bis Freitagmittag musste ich dort meinen Mund halten, durfte ihn nur zum Singen und Beten öffnen und einmal am Tag bei einem Gespräch mit der Leitung.

Allein war ich in dieser Woche nicht. Auch andere waren zum Schweigen dort, gemeinsam waren die Gebets- und Meditationszeiten und die Mahlzeiten. Wir saßen zusammen an einem oder zwei Tischen. Es hatte nicht jeder sein Essen vor der Nase, sondern es gab Schüsseln, aus denen man sich bedienen musste.

Es wurde geschwiegen.

Nun kommen Sie mal an die Kartoffeln, wenn Sie nichts sagen dürfen! In meiner Familie wären Sie verhungert. Dort, mit mindestens sieben Personen an einem Tisch, wurde immer laut nach dem gefragt, was man wollte. Ob wir schweigend satt geworden wären? Oder immer das bekommen hätten, was wir wollten?

Na, jedenfalls hat es damit beim Schweigen geklappt. Alle haben aufeinander aufgepasst. Immer geguckt, ob alle alles haben, fragend geschaut, wenn einer nichts mehr auf dem Teller hatte, angeboten von dem, was noch da war usw.

Ja, die Mahlzeiten haben länger gedauert, aber mir wurde noch nie so viel angeboten, ich habe noch nie so oft nach anderen geschaut, ob alles gut ist. Ich wurde immer satt. Bekam immer genug von allem Und lernte Menschen ganz neu kennen.

Und weil wir so wenig voneinander wussten, weil wir im Grunde nur unsere Fürsorge für einander kannten, war es eine sehr einmütige Gesellschaft, in der das Arbeiten übrigens auch ganz selbstverständlich dazugehörte, den es war ebenfalls ein Teil des Tagesablaufs. Manche von uns musste gebremst werden, weil sie zu viel tat! Da sind Paulus Vorstellungen ein wenig wahr geworden. Eine gute Zeit war es. Immer wieder, in den unterschiedlichsten Gruppen.

Nun können Sie natürlich sagen, dass, wer den Mund hält, sich auch nicht streiten kann. Stimmt, aber dieses ganze Höher! Schneller! Weiter! fiel eben auch weg, keiner wollte besser sein als der andere – ging ja nicht, wir waren im Schweigen ganz mit uns und Gott beschäftigt, aber auch mit den anderen. Diese Schweigezeit, sie hatte so ein bisschen etwas von Paulus Vorstellungen, und das war gut.

Aber nun können wir ja nicht alle schweigend durchs Leben laufen, ich ja sowieso nicht, weil ich so gern rede, aber wie geht das dann mit Paulus Vorstellungen? Wie schaffen wir es, uns mit den anderen so zu beschäftigen wie mit uns selbst? Wie kommen wir dazu, einmütig miteinander umzugehen, wie schaffen wir einen liebevollen Umgang miteinander, mehr Demut?

„Ich glaube, Sie sind zu keck, das steht ihrer Demut im Wege“, hat in dieser Woche ein Patient zu mir gesagt und mich gleichzeitig getröstet, dass „wir alle doch nur Menschen seien…“ Er hat freundlich formuliert, was es mir oft schwer macht, aber natürlich träume ich davon, dass ich dem Bild von Paulus entspreche. Und gleichzeitig spüre ich auch: Vom Krawall will ich nicht lassen, will mich auch in Zukunft für andere einsetzen, deren Wohl höher achten, ja, genau aus diesem Grund dafür streiten.

Also – auch wenn es in der heutigen Zeit unpopulär klingt, hat meine Schweigewoche gezeigt: wenn man nach Paulus Vorschlägen lebt, lebt es sich gut. Lebt man in einer Gemeinschaft, in der man einander im Blick hat, muss man keine Angst um sich haben: es wird auch ausreichend an einen selbst gedacht. Das ist gut.

Dass das nur funktioniert, wenn es alle miteinander gut können, ist auch klar.

Wie funktioniert es in der rauen Wirklichkeit? Ich glaube, da kommt das mit der Ehre ins Spiel: wenn ich den anderen wirklich im Blick habe, dann kann, darf, soll ich mich sogar für ihn einsetzen, dann darf ich sicher auch einmal auf Krawall gebürstet sein, wenn es vorher mit Liebe nicht geklappt hat.

Aber: Es muss vorrangig um den anderen gehen, vorrangig um eine gute Sache, nicht um mich und meine Ehre! Da bin ich gefragt. Um wieder an die erste Frage anzuknüpfen: um wen geht es mir wirklich? Hier ist auch meine Ehrlichkeit gefragt.

Vielleicht ist das am Ende gar nicht so schwer. Meine Erfahrung sagt mir ja oft: wenn es im Kleinen klappt, müsste es auch im Großen gehen.

„Beten müssen Sie, alles auf Gott setzen müssen Sie, es ihm anvertrauen!“, das würde mein Patient, der mich für „keck“ hält, Ihnen noch mit auf den Weg geben. Ja, vielleicht klappt es beim Schweigen genau deshalb: weil wir Gott im Singen und Beten immer auch die Ehre gegeben haben, wir ihn ganz bewusst immer wieder in unsere Mitte geholt haben.

Amen.

Friederike Seeliger