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Zum Holocaust-Gedenktag: Alle Jahre wieder „Nie wieder!“?

„Die Erinnerung darf nicht enden. Sie muss auch künftige Generationen zur Wachsamkeit mahnen.“ Mit diesen Worten erklärte der damalige Bundespräsiden Roman Herzog 1996 den 27. Januar zum zentralen Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus. 2005 beschloss die Generalversammlung der Vereinten Nationen, den Tag international zum Holocaust-Gedenktag zu machen.

Warum der 27. Januar? Am 27. Januar 1945 befreiten sowjetische Soldaten das Vernichtungslager Auschwitz. Im Hauptlager in Auschwitz, das auf einem ehemaligen Barackengelände der polnischen Armee errichtet worden war, belief sich die Zahl der Insassen zeitweise auf mehr als 20.000. Dazu kamen mehr als 90.000 Häftlinge, die in dem weit größeren Lager im drei Kilometer entfernten Birkenau (Brzezinka) eingepfercht waren. Auf diesem später auch Auschwitz II genannten Gelände ließ die SS Anfang 1942 die ersten Gaskammern errichten. In Auschwitz wurden bis kurz vor der Befreiung schätzungsweise 1,1 Millionen Menschen grausam ermordet. Diese Menschen wurden vergast, zu Tode geprügelt oder erschossen oder sind an Krankheiten und Hunger gestorben.

Die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz jährt sich in diesem Jahr zum 73. Mal. Jetzt ist es aber langsam mal genug mit dieser ritualisierten Erinnerungskultur, sagen mit wachsendem Abstand zum Kriegsende immer mehr Menschen. Dem setze ich ein entschiedenes „Nein“ entgegen.

Als Jugendlicher besuchte ich mit einer Jugendgruppe des damaligen Kirchenkreises Essen-Nord das Konzentrationslager Buchenwald. Von dort nahm ich eine wichtige Botschaft mit auf meinen weiteren Lebensweg. „Nie wieder Krieg – Nie wieder Faschismus!“. Dieser von den Buchenwald-Überlebenden geleistete Schwur ist heute aktueller denn je. Nationalismus und Rechtspopulismus sind nicht nur in Deutschland wieder auf dem Vormarsch. Damit sind vielerorts die Ausgrenzung von Minderheiten, völkisches Denken und eine Brutalisierung der Gesellschaft verbunden.

Lange Jahre war dieses „Nie wieder!“ einer der gesetzten Bestandteile des Zements, der das Fundament unserer demokratisch-verfassten Gesellschaft zusammen hält.
Aber das Fundament scheint zu bröckeln, wenn man an Reden wie die des AfD-Politikers Björn Höcke denkt. Er hatte in Anspielung auf das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin von sich gegeben, die Deutschen seien „das einzige Volk der Welt, das sich ein Denkmal der Schande in das Herz seiner Hauptstadt gepflanzt hat“. Auch andere häufig in Parlamenten sitzende Granden der Rechtspopulisten in verschiedenen europäischen Ländern versuchen sich als Mineure des gleichen Fundaments. Sie setzen eine Behauptung in die Welt, rudern – wenn sich genug Protest erhebt – ein Stück zurück, und als Nebeneffekt haben das wichtige Fundament wieder ein Stück weit unterspült.

Diese Anschläge gegen die wichtige Erinnerungskultur treffen unsere Gesellschaft zu einem kritischen Zeitpunkt. Die Generation der Opfer – wie auch der Täter – stirbt aus. Mit dieser Generation verschwinden die persönlichen Bezüge zu diesem Abschnitt der (deutschen) Geschichte. An jedem Jahrestag der Auschwitz-Befreiung gibt es weniger Überlebende, die ihre Erfahrungen weitergeben können. Aus diesem Grund fordert die UN-Resolution zum Holocaust-Gedenktag Staaten weltweit dazu auf, Erziehungsprogramme zu entwickeln. So soll die Erinnerung lebendig gehalten und verhindert werden, dass sich Auschwitz wiederholt. Das kann ich nur unterstreichen – gerade weil ich diverse Fahrten nach Auschwitz in unterschiedlichen Konstellationen begleiten durfte und weil ich wiederholt miterleben konnte, welche aufrüttelnde eine persönliche Begegnung mit der Geschichte haben kann. Trotzdem halte ich nichts von Pflichtbesuchen von Jugendlichen in Konzentrationslagern. Solche Besuche müssen unbedingt freiwillig und gut vorbereitet sein.

„Wir wollen Lehren ziehen, die auch künftigen Generationen Orientierung sind“, so begründete Roman Herzog 1996, die Proklamation des 27. Januar als Gedenktag. Ohne Auschwitz gebe es keine deutsche Identität, fügte sein Nachfolger Joachim Gauck 2015 hinzu. Das greift mir zu kurz. Für mich geht es nicht um deutsche Identität. Ich habe vielmehr den Pulsschlag Europas im Ohr. Auch dort mischen sich nicht nur aus dem Osten Missklänge in die Ode an die Freude.

Nächstenliebe und Solidarität gehören für mich zusammen und da sind nationale Identitäten nicht besonders hilfreich. Verantwortungsvoll handelnde Demokraten – unabhängig von ihren Pässen, Parteibüchern oder ihrer Religionszugehörigkeit – sollten nicht nur am 27. Januar jeden Jahres das „Nie wieder!“ bekräftigen. Außerdem sollte jeder seinen persönlichen Weg für die Bekräftigung finden. Das kann im Alltag sein, in dem er oder sie gegen Stammtischparolen aufsteht. Das kann die tatkräftige Mitarbeit in einer Flüchtlingsinitiative sein. Das kann das Vorleben von christlichen oder humanistischen Werten in der persönlichen Umgebung sein. Da sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt.

Ritualisierte Erinnerungskultur kann nur ein zusätzlicher Stützpfeiler sein, der das Fundament unserer Gesellschaft verstärkt. Gerade durch den Generationswechsel sind auch neue Formen der Erinnerungskultur gefragt. Damit ist nicht das Tanzen auf dem schon angesprochenen Denkmal in Berlin gemeint, das der israelische Künstler Shahak Shapira in seinem Projekt Yolocaust neben vielen anderen Merkwürdigkeiten dokumentierte.

Ich zum Bespiel schreibe Gedichte, die man nach Auschwitz und sehr wohl auch über Auschwitz schreiben darf, und ich fotografiere an Orten der Erinnerung. Mir geht es dabei nicht um die millionste Aufnahme des Eingangstores von Auschwitz, das ja zwischendurch schon beim Schrotthändler gelandet war. Ich will den Dingen zum Beispiel in meiner aktuellen Ausstellung in Essen auf den Grund gehen. Meine Aktivitäten sind aber kein Masochismus oder fehlgeleitete christliche Selbstkasteiung. Mir geht es um immer wieder neue Blickwinkel auf unsere nicht einfache Geschichte, der wir uns immer wieder neu stellen müssen. Nicht weil wir mit Schuld beladen sind, sondern um das Fundament unserer Gesellschaft so abzusichern, dass es auch für zukünftige Generationen standhält. Dabei können uns christliche Werte helfen, wenn sie nicht von selbsternannten Rettern des Abendlandes missbraucht werden. Jedoch ist die Absicherung des schon beschriebenen Fundaments keine christliche Privatangelegenheit. Unsere Gesellschaft ist vielfältig, das sollte sich auch in der Gemeinschaft derjenigen widerspiegeln, die für sie eintritt.

Auschwitz ist Symbol für die industrielle Vernichtung von Menschen durch Menschen. Das Schreckliche bekam an diesem Ort eine Dimension, die kaum nachvollziehbar ist. Alle moralischen Maßstäbe waren dort aus dem Gleichgewicht geraten. Der Mensch ist dem Menschen immer wieder ein Wolf – und bei weitem nicht nur auf zwischenstaatlicher Ebene wie es Hobbes meinte. Aber in Auschwitz mutierte er unter dem Deckmantel von Ideologie und Bürokratie zum Monster. Menschen – also einmalige Geschöpfe der Schöpfung – wurden reduziert auf ihren Materialwert – ein Kilo Menschenhaare zu 50 Pfennig. Über eine Million Individuen wurden in Auschwitz zu Asche. Die Vernichtung des europäischen Judentums wurde mit deutscher Gründlichkeit vorangetrieben. Sinti und Roma wurden zu Untermenschen degradiert. Homosexuelle wurden Seite an Seite mit religiös und politisch Andersdenkenden grausam ermordet.

Heute sind die Monster von einst zum Glück in ihren Gräbern, über die Gras gewachsen ist. Doch immer häufiger zeigen kleine Gremlins, die mit allen Wassern gewaschen sind, ihre hässliche Fratze. Wir dürfen sie ihr Zerstörungswerk an dem Fundament unserer Gesellschaft nicht ungestört vorantreiben lassen. Der 27. Januar ist ein guter Stichtag, um daran zu erinnern. Aber er ist nur ein Tag unter vielen.

Olaf Eybe

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HERZLICHE EINLADUNG ZUR AUSSTELLUNG

Orte der Erinnerung: Auschwitz – Babyn Jar
Fotos von Olaf Eybe
Vernissage: Samstag, 27. Januar 2018, Holocaust-Gedenktag
Beginn: 17.00 Uhr
Ort: klasse:Raum, Theaterpassage Essen, Rathenaustraße 2, 45127 Essen
Ausstellung: 27.1.2018 bis 11.2.2018
Besuch nach Vereinbarung; Kontakt: olaf.eybe@eybeeybe.de

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