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Weihnachtspredigt: Singen als Sprache der Hoffnung

Manchmal passiert es einfach: ich höre ein Lied, und auf einmal bin ich woanders – nur für einen Moment. Im Supermarkt laufen ein paar Takte eines alten Weihnachtsliedes, und plötzlich bin ich wieder Kind, sitze am Tannenbaum im Sauerland und rieche den Duft des selbstgebackenen Spritzgebäcks. Oder ich stehe in der vollen Straßenbahn, jemand summt leise vor sich hin – und auf einmal wird alles ein kleines Stück leichter. Der Tag selbst ändert sich nicht, aber etwas in mir selbst fühlt sich anders an.

Singen wirkt direkt. Es spricht uns an, bevor wir es mit dem Kopf begreifen. Es erreicht etwas in uns, das Worte allein oft nicht schaffen.

Und genau das geschieht heute, am Heiligen Abend. Selbst Menschen, die sonst kaum singen, summen oder singen mit: leise, tastend, mutig, manchmal brüchig, schief. Auch wenn nicht alle Melodien bekannt sind, irgendwie sprechen die Tonfolgen hier im Kirchraum für sich. Und irgendwie docken wir an, an die alten Melodien, bewegen sie in uns – und lassen selbst etwas von der Freude und Hoffnung hörbar werden, die diese Nacht bedeutet. Wir singen Lieder, die vor Jahrhunderten gedichtet wurden. Wir lassen uns fallen in eine Gemeinschaft, die viel weiter reicht als wir.

Die uns verbindet mit der Weihnachtsgeschichte: Als Jesus geboren wird, reagiert der Himmel nicht mit einer langen Rede, nicht mit Argumenten oder Anweisungen. Sondern mit einem Lied. Das ist schon bemerkenswert. Die Engel hätten ja auch sagen können: „Hört gut zu, wir erklären euch jetzt mal die Lage der Welt.“ Stattdessen wird gesungen. Weil man manches nur singen und nicht sagen kann. In Lukas 2,10-14 heißt es:

„Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen. Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sangen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.“

Die Engel singen, und mit ihrem Gesang ist die Welt der Hirten nicht mehr dieselbe. Sie sind einfache Menschen, erschöpft, auf dem Feld bei Nacht. Und gerade sie hören zuerst die Botschaft Gottes.

Warum singen die Engel? Warum sprechen sie nicht einfach nur die Nachricht? Oder schreiben sie auf? Weil ein Lied etwas bewirkt, das Worte oft nicht schaffen. Ein Lied erreicht das Herz, es öffnet Räume, die verschlossen scheinen. Ein Lied sagt:

Fürchtet euch nicht – es ist Hoffnung da.

Stellen Sie sich die Hirten vor. Draußen auf dem Feld, frierend, vielleicht müde, überrascht von diesem seltsamen Licht am Himmel. Ein Engel spricht – und dann plötzlich ein ganzer Chor, der den Himmel erfüllt. Die Botschaft Gottes – nicht als Text, sondern als Klang. Ein Klang, der Mut macht, der die Hirten aufstehen und zum Stall gehen lässt.

Heute wissen wir, was Menschen seit Jahrtausenden intuitiv erfahren: Singen wirkt direkt auf uns und verändert uns. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass beim Singen Endorphine, Serotonin und Dopamin freigesetzt werden – Glückshormone, die uns entspannter und zuversichtlicher machen.

Singen macht fröhlich, baut Stress ab, beruhigt, hilft sogar gegen die Angst. Wer singt, atmet tiefer, nutzt den unteren Teil der Lunge – den Bauch – und spürt seinen Körper anders. Der Dichter Rainer Maria Rilke bringt es treffend auf den Punkt: „Gesang ist Dasein.“ Wer singt, ist ganz da. Vielleicht beginnt Gottes Friedensbotschaft deshalb mit einem Lied.

Ich erinnere mich an den schwedischen Kinofilm aus dem Jahr 2004: „Wie im Himmel“ der mich tief beeindruckt hat. Er ist eine einzige Hommage an das Singen. Der Film erzählt von einfachen Menschen einer Dorfgemeinschaft. Sie machen sich auf die Suche nach ihrer je eigenen Stimme. Und erleben als Chor im Miteinander ein Stück vom Himmel auf Erden. Der Filmplot selbst ist schnell erzählt: Der Stardirigent Daniel lebt in einem musikalischen Rausch. Bis ihn eines Tages ein Herzinfarkt urplötzlich aus dem Konzertbetrieb heraus reißt.

Er geht zurück in das Dorf seiner Kindheit, zieht dort in ein altes Schulhaus ein. Nach anfänglichem Zögern übernimmt er den Chor der Kirchengemeinde. Und er nimmt die zunächst noch wenigen Chormitglieder mit auf einen spannenden Weg: Auf die Suche nach der eigenen Stimme, auf die Suche nach Liebe und Lebenslust, die sich im gemeinsamen Gesang ausdrücken. Und so wachsen die Menschen durch das gemeinsame Singen zu etwas zusammen, das am Ende mehr ist als die Summe der Einzelpersonen. Nicht umsonst heißt der Film: „Wie im Himmel.“

Von den einfachen Menschen einer Dorfgemeinschaft zurück zu den einfachen Hauptdarstellern der Weihnachtsgeschichte, den Hirten: sie hören und gehen sofort. Sie zögern nicht. Das Lied der Engel ermutigt und bewegt sie. Singen kann verändern. Es macht aus Hörenden Handelnde. Aus stillen Menschen, die das Ungeheuerliche betrachten, werden Suchende, die das Wunder besuchen.

Die Engel singen nicht, weil die Welt friedlich ist. Sie singen, damit Frieden in die Welt hineinklingt. Es ist ein „performativer“ Akt: Durch den Gesang wird etwas Wirklichkeit, das vorher nicht denkbar schien. Wie ein Funke, der die Dunkelheit durchbricht.

Das Kind in der Krippe liegt in Windeln. Wehrlos. Arm. Nichts daran strahlt Macht aus. Und doch singen die Engel „Frieden“.

Wir alle wissen: 2025 ist kein Jahr, in dem man leicht vom Frieden spricht. Die Konflikte und  Kriege dieser Welt machen Angst, in der Ukraine, in Israel, im Sudan… Hier bei uns besorgt mich, wie angespannt unsere Gesellschaft ist, wie schnell Menschen unterschiedlicher Meinungen aneinandergeraten, verbal oder auch körperlich. Wir erleben, wie gefährdet die Demokratien dieser Welt sind.

In Deutschland haben wir in diesem Jahr am 8. Mai „80 Jahre Frieden“ gefeiert. Hier in der Erlöserkirche, an diesem im Zweiten Weltkrieg so verwundeten Ort, haben wir am Vorabend des Jahrestags in einem ökumenischen Gottesdienst innegehalten. Und uns bewusst gemacht, wie wichtig es ist, weiter sensibel, wachsam und aufmerksam für die Gefährdung des Friedens zu sein.

Ich bin heute dankbar für die vielfältige Bildungsarbeit für junge Menschen in unserer Stadt, die die Partner unserer „Essener Allianz für Weltoffenheit“ gestalten. Ich denke an all die Bündnispartner – die Gewerkschaften, den Sportbund, die Kirchen, weitere Religionsgemeinschaften, Jugendverbände und viele mehr – gemeinsam bieten wir Plattformen und Orte an, um Demokratie einzuüben. Um uns zu stärken für ein friedvolles Miteinander in unserer Stadt.

Und gerade deshalb ist Singen heute kein Beiwerk. Singen ist ein kleiner aktiver Widerstand gegen die Dunkelheit. Ein trotziges, mutiges, zärtliches „Trotzdem“ gegen alles, was uns niederdrückt. Mir ist bewusster denn je, wie wichtig es ist, dass wir heute nicht nur reden – sondern auch singen. Singen ist eine Sprache, die allen gehört. Den Gebildeten und den Unsicheren. Den Älteren und den Kindern. Den Glaubenden und den Zweifelnden. Denjenigen, die wackelig singen, und denjenigen, die mit voller Stimme singen.

Die Spiritualität der Kirche der Reformation war von Anfang an durch das Singen und die Lieder mitgeprägt. Auch hier im Weihnachtsgottesdienst erleben wir die Kraft des Singens: Es verbindet Menschen, die sonst nichts gemeinsam haben. Aus vielen Stimmen wird eine Melodie. Vielleicht ist das schon der erste kleine Frieden auf Erden.

Wenn wir „Stille Nacht“ oder „O du fröhliche“ anstimmen, dann öffnen wir ein Fenster. Wir schaffen Resonanzräume, in denen etwas von Gottes Wirklichkeit hörbar wird. Ich bin mir sicher, das spüren Sie beim Singen: In manchen Momenten trägt mich das Lied weiter als der eigene Glaube.

Gott kommt als Kind. Nicht mit einem Paukenschlag, sondern mit einem kaum hörbaren Atemzug. Denn Gott will keinen Applaus – sondern Resonanz. Der Engelgesang ist die Einladung: Höre zu. Sing mit. Stimme ein in Gottes große Hoffnung auf diese Welt. Da liegt das Kind in der Krippe – arm, aber voller Würde. Und die Engel sagen: Genau dort beginnt der Friede. Nicht im Palast. Nicht bei den Mächtigen. Sondern mitten im Stroh.

Sicher kann heute nicht jede und jeder singen. Weil die Stimme stockt. Weil die Trauer zu groß ist. Weil die Einsamkeit schwer wiegt. Oder weil der Glaube fremd ist. Für euch singen dann die anderen. Für euch singen wir mit. Für euch singen – und für euch haben die Engel damals gesungen. Manchmal trägt uns das Lied der anderen, bis wir wieder unsere eigene Stimme finden.

Heute, an Heiligabend, sind wir mit unseren Liedern Teil eines uralten, himmlischen Chores. Mit jeder Strophe treten wir in die Spur der Engel, die damals die Stille über Bethlehem durchbrachen. Wir singen, weil Gott heute Mensch wird. Wir singen, weil wir uns nach Frieden sehnen. Wir singen, weil Hoffnung eine Melodie hat. Und wenn wir gleich wieder miteinander singen – dann spüren wir für einen Augenblick, wie der Friede Gottes zwischen uns Platz nimmt.

Ein alter Satz sagt: „Wer singt, betet doppelt.“ Vielleicht stimmt das. Aber vielleicht ist noch etwas Größeres wahr: Wer singt, hofft doppelt. Vertrauen wir auf den Heiland, der geboren ist und machen wir uns auf, immer neu für den Frieden auf Erden einzutreten als Menschen seines Wohlgefallens.

Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.

Amen.

Marion Greve
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Ihre Weihnachtspredigt hielt Superintendentin Marion Greve an Heiligabend, 24. Dezember, in der Christvesper um 18 Uhr in der Erlöserkirche zu Essen.

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