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Die Farbe Grau – oder: wie ich die Mittelmäßigkeit lern(t)e

Ich denke in Kontrasten: Schwarz oder Weiß. Das sind meine Farben.
Ich lebe „Schwarz und Weiß“: Ich suche zuerst den Fehler bei mir – zumindest meinen Anteil am Scheitern will ich wissen. Ich will mich nicht herausreden damit, dass andere auch nicht besser sind als ich.
Ich möchte mir keine Lebenslügen gönnen – denn: ich möchte an meinem Schicksal selbst schuld sein.
Ich denke die Dinge zu Ende. Und darauf bin ich stolz.
So bekomme ich die Dinge zu fassen. Bekomme in den Griff, was mir widerfährt. Das gibt mir Unabhängigkeit und das gute Gefühl, die Kontrolle zu haben über mein Leben.
Denn nichts trifft mich härter als die Ohnmacht. Nichts bringt mich schneller in rasende Wut als das Gefühl, hilflos und ausgeliefert zu sein.
Und nichts fürchte ich mehr als die bodenlose Traurigkeit und Angst, die hinter all dem lauert wie ein Monster.

Warum ist das so?
Vielleicht ist es meine Natur? Charakterzüge, die durch Gene festgelegt sind?
Vielleicht hat es damit zu tun, dass meine Eltern sich immerzu nur mit Lebenslügen behalfen. Natürlich haben sie nicht genau gewusst, wohin der jüdische Mitschüler verschwand. Und Dresden zu bombardieren war auch ein grauenhaftes Verbrechen (fürwahr!). Außerdem hatten die Amerikaner ja auch die indianische Kultur ausgerottet. Und so weiter.
Die „Shades of Grey“ meines Elternhauses! Ich verabscheute sie zutiefst.
Wie gesagt – in all den Jahren meines Erwachsenenlebens war es vor allem eine Eigenschaft, die ich wirklich mochte an mir: mich nicht mit dem „Grau“ zufrieden zu geben.

Dann kam das Älterwerden als Aufgabe auf mich zu. Und damit Fragen wie diese:
Wollte ich wirklich noch einmal meine Beziehung lösen, weil sie nur noch lauwarm und „er“ doch kein Traumprinz war? Weil ich enttäuscht wurde, weil so manches meiner Bedürfnisse nicht erfüllt wurde und vermutlich nie werden würde (den Versuch, „ihn“ nach meinen Wünschen zu ändern, musste ich nach ein paar Jahren und vielen Kämpfen aufgeben).
Wo würde ich – realistisch betrachtet – auf dem Markt der Möglichkeiten den „Einen“ treffen, der „alles“ sein kann? Und würde der ausgerechnet auf mich gewartet haben?
Oder: wollte ich das wirklich – allein alt werden?
Ich hörte mir das Lied „Wolke 4“ von Philipp Dittberner noch einmal mit anderen Ohren an und entschied mich: lieber auf Wolke 4 mit dir als unten wieder ganz allein.

Da war sie: die Farbe Grau hatte Einzug gehalten in mein Leben.
Mit ihr kam – die Mittelmäßigkeit.
Die Mittelmäßigkeit wurde mein Thema. Ich entdeckte es nun auf Schritt und Tritt.
Ich war nicht richtig krank – aber auch nicht mehr ganz gesund. Ich, die ich Arztbesuche kaum kannte, muss nun meinen Kalender immer öfter nach Sprechstundenzeiten organisieren.
Ich kann noch viel leisten – aber mein Perfektionismus bricht schmerzhaft zusammen. Ohne meine vielen lieben und liebevollen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter könnte ich den Standard nicht mehr halten.
Ich brauche mehr Schlaf und weniger Abendtermine. Und auch eine Reinigungshilfe und einen freundlichen Gärtner. Und die Hundesitterin, die morgens den Dackel versorgt, damit ich ausschlafen kann.
Früher hatte ich diese Unterstützungen als Privileg sehr zu schätzen gewusst – heute sind sie Notwendigkeit für mich.

Da bemerkte ich:
Diese Dinge will ich nun nicht mehr zu Ende denken.
Ich will keine Position mehr formulieren, wie ich mit einer etwaigen Pflegebedürftigkeit umgehen will. Ob ich den Suizid dann tatsächlich erwäge.
Ich will auch nicht mehr die Projektionstheorien der Religionskritiker an mich heran lassen. Ich will einfach nur darauf vertrauen, dass Gott da ist.
„Denn er hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen, dass sie dich auf den Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest“, heißt es in Psalm 91. Das will ich glauben – wenn ich fortan in grauen Schatten neue Orientierung suchen muss.

Anke Augustin

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