Dieser Beitrag wurde 1.919 mal aufgerufen

Babyn Jar – Auschwitz: Vier Bildbeschreibungen

Am 27. Januar ist Holocaust-Gedenktag. Vor nunmehr 75 Jahren wurde das Konzentrationslager Auschwitz von russischen Truppen befreit. Ein Tag um innezuhalten, um zu beten, aber auch um zu handeln, damit das „Nie wieder“, das auf dem Denkmal des KZ Dachau in großen Lettern und in verschiedenen Sprachen steht, keine leere Forderung bleibt. Im Umfeld des Gedenktages finden wieder viele Veranstaltungen statt – auch in Essen.

Vom 19. Januar bis zum 2. Februar ist in der Stephanuskirche in Essen-Überruhr und auf dem Gelände rund um die Kirche die ungewöhnliche Fotoausstellung „Orte der Erinnerung“ zu sehen. Ich zeige dort Fotos aus Babyn Jar und aus Auschwitz. Mir geht es nicht um die reine Abbildung der Realität. Ich ging schmerzhaft nah an meine Motive heran. Ich wollte nicht zeigen, was wir alle längst kennen und doch nicht begreifen können. Oft sind es die Details (der Geschichte), die die Augen öffnen. Zu sehen ist die Ausstellung in der Stephanuskirche und auf dem Außengelände der Gemeinde; das ermöglicht ganz neue Aus- und Einblicke und eröffnet einen ungewohnten Zugang zu den Bildern.

Am Sammelpunkt, Babyn Jar, Kiew

Fußspuren im Sand, im erstarrten Schlamm oder doch im Beton? Ausgetrockneter Boden. Kleine Füße. Große Füße. Hier waren viele Menschen. Haben sich getroffen, haben gewartet, um ihrem Tod entgegen zu laufen. Tausende Menschen.

Am frühen Morgen des 29. September 1941 war der Platz am jüdischen Lukjanowski-Friedhof in Kiew überfüllt. Am Tag davor hatten die deutschen Besatzer die noch in Kiew verbliebenen Juden aufgefordert, sich bis spätestens 8 Uhr genau dort einzufinden. Gerüchte von einem Transport mit dem Zug machten die Runde. Genau hier steht heute ein eher unscheinbares, aber sehr berührendes Denkmal.

Stadtkommandant Generalmajor Kurt Eberhard hatte mit 5.000 Menschen gerechnet, aber es kamen über 30.000. Hauptsächlich versammelten sich Frauen und Kinder, ältere Menschen und Kranke, denn viele Männer waren in die Rote Armee eingezogen worden und andere längst geflohen.

Mal war von einem Ghetto die Rede, mal von der Umsiedlung nach Palästina. Doch der Tod war längst beschlossen. An den Marsch der vielen Menschen in die Schlucht von Babyn Jar – zu Deutsch „Weiberschlucht“ – erinnert eine schlichte Stele mit Fußabdrücken.

Ich wollte mit meinem Foto nicht einfach ein Denkmal abbilden. Ich wählte ganz bewusst einen besonderen Ausschnitt. Für mich war der Moment des Auslösens ein Innehalten, ein mich Besinnen, ein Festhalten. Danach lief ein grausiger Film vor mir ab, dessen Drehbuch der Autor Armin Fuhrer eindrucksvoll beschreibt.

Die Menschenmasse wurde durch die Straßen zum Geländer der Schlucht getrieben oder auch mit Autos dorthin transportiert. Wehrmachtssoldaten der 6. Armee unter Generalfeldmarschall Walter von Reichenau sicherten „die Lage“ ab. Auf dem Gelände angekommen mussten sich die Juden etwa 300 Meter von der Schlucht entfernt vollständig ausziehen. Ihre Wertsachen wurden eingesammelt, Ausweise, Fotos und andere Dinge verbrannt. „Es ist unmöglich zu beschreiben, was an diesem Ort vor sich ging – Hysterie und Terror, Weinen und Verzweiflung, Betteln von Müttern um Gnade für ihre Kinder. Viele verloren das Bewusstsein“, so schildert Schtein Ruwim, einer der wenigen Überlebenden des Massakers, die Szenerie. Hier wurde er von seiner Mutter und seiner Schwester für immer getrennt.

Anschließend wurden die Menschen an den Rand der Schlucht geführt. Was dann passierte, schilderten Juden, die das Massaker überlebten, ähnlich wie SS-Männer, die später vor Gericht gestellt wurden. Kurt Werner, ein Angehöriger des SK 4, erinnerte sich. Er hatte mit anderen Männern in die Schlucht hinunterklettern müssen. Dann kamen die ersten Juden. „Sie mussten sich mit dem Gesicht zur Erde an die Muldenwände hinlegen. In der Mulde befanden sich drei Gruppen von Schützen, mit insgesamt etwa zwölf Schützen.“ Sie erschossen die wehrlosen Menschen.

Gleichzeitig wurden ständig neue Opfer herangeführt. „Sie mussten sich auf die Leichen der zuvor erschossenen Juden legen. Die Schützen standen jeweils hinter den Juden und haben diese mit Genickschüssen getötet“, so Werner. Der Leichenberg wuchs so immer weiter, die Schlucht füllte sich mit immer mehr Getöteten. Damit die Schützen nicht schlappmachten, ließen ihre Vorgesetzten Alkohol verteilen. Die Erschießungsaktion zog sich über 36 Stunden und war erst am darauffolgenden Tag beendet.

Doch das Szenario war kein Film, sondern grausame Realität verübt von Menschen an Mitmenschen. Für mich ist das Geschehen von 1941 untrennbar mit dem Foto von den großen und kleinen Fußabdrücken verbunden.

One Shot – One Hit, Babyn Jar, Kiew

Heute sind die die Ränder der Schlucht in Babyn Jar bis auf wenige Ausnahmen eingeebnet. Heute sind hier überall Bäume und Sträucher. In den 70er-Jahren entschied die Stadt Kiew, aus dem Ort des Massenmords ein Naherholungsgebiet zu machen. Spielplätze, eine Bühne, Jogger – hier prallen Widersprüche aufeinander.

Ich gehe tiefer in das Wäldchen hinein, um ein wenig Ruhe zu finden. Aber ich stehe in einem Teppich aus Müll. Reste von wilden Partys. Zigarettenpackungen – mit der Aufschrift Rauchen tötet.

Mir wird anders.

Reste von Fertiggerichten, Essbesteck, immer wieder Schnapsflaschen. Meine Augen suchen den Waldboden ab. Dann fällt mein Blick auf eine gar nicht so große Flasche. Sie schimmert bläulich und silberfarben. Zuerst sehe ich eine Aufschrift. Als ich sie begreife, ist es schon zu spät.

Ich werde viele Jahre zurückgeworfen und der Boden ist karg, um mich herum schreiende Menschen ohne Kleider und hämisch grinsende, teilweise uniformierte Mörder oder ihre Helfershelfer.

„One Hit – One Shot“ steht auf der Flasche. Ich will es nicht glauben. Erst viel später sehe ich den Revolver auf der Alcopop-Flasche.

Instinktiv richte ich mein Objektiv auf die Flasche und gehe ganz dicht heran. Meine Hände zittern – nicht vor Kälte –, ich drücke mehrfach ab. Das muss ich festhalten, davon muss ich erzählen.

Bin ich zu sensibel für die Gegensätze in dieser Welt? Ich verlasse den Wald, komme vorbei an einer großen Menora, an einem Kreuz und halte inne an einem großen Planwagen aus Metall, der an die ermordeten Sinti und Roma erinnert. Aber immer wieder geht mir die Zeile „One Hit – One Shot“ durch den Kopf.

Ich weiß nicht mehr wie oft, seit dem Moment des Entdeckens. Vielleicht 33.771 Mal – ich bin Deutscher. Manchmal bin auch ich gründlich. Erinnerungskultur ist ein schwieriges „Geschäft“.

Block 11, Auschwitz

Ein rostiger Haken, der aus einem schräggestellten Pfahl ragt.

Nein, das ist kein Galgen, aber was ist es denn und wo ist es zu finden?

Im Stammlager Auschwitz im sogenannten Todesblock.

Als Block 11 oder Todesblock wird ein zweigeschossiges Backsteingebäude bezeichnet, in dessen Kellergeschoss sich von Juli 1940 bis zur Evakuierung des Konzentrationslagers im Januar 1945 das Lagergefängnis befand.

Viele der Häftlinge starben aufgrund der grausamen Haftbedingungen und Misshandlungen. Tausende Häftlinge wurden nach Bunkerselektionen und Polizeistandgerichtsverfahren vor der im Hof zwischen Block 10 und 11 befindlichen Schwarzen Wand erschossen.

Im Herbst 1941 wurde im Keller des Blocks 11 die erste Massenvergasung von Menschen mit Zyklon B durchgeführt. Dem Block 11 als Gefängnis im Gefängnis kommt aufgrund dieser Sonderfunktionen eine besondere Bedeutung zu.

Die im Block 11 an Häftlingen begangenen Verbrechen waren auch Verfahrensgegenstand im ersten Frankfurter Auschwitzprozess. Heute ist der Block 11 Teil des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau.

Der Hof zwischen Block 11 und Block 10 war an den Stirnseiten der beiden parallel zueinanderstehenden Gebäude mit hohen Backsteinmauern eingesäumt und damit sichtgeschützt. Neben der Schwarzen Wand, an der tausende Häftlinge mittels Kleinkalibergewehr durch Genickschuss ermordet wurden, befanden sich auf dem Hof auch zwei „transportable“ Galgen sowie mehrere Pfähle zum Vollzug der Strafe des Pfahlbindens.

Das Pfahlbinden oder auch Pfahlhängen ist eine Foltermethode, die eine lange Geschichte hat. Sie war nach der Constitutio Criminalis Caroli Quinti (CCC) von 1532 bei bestimmten Verdachtsmomenten zulässig. Während der Zeit der Hexenprozesse nannte man diese Foltermethode „Aufziehen“.

Der Folterer bindet die Hände des Opfers hinter dem Körper zusammen. Danach wird das Opfer an den Händen an einem Baum, Pfahl oder an der Decke aufgehängt. Lässt der Folterer das Opfer in dieser Aufhängung fallen, so reißt das Körpergewicht die Arme des Opfers nach oben.

Die Foltermethode des Pfahlhängens ist extrem schmerzhaft. Sie kann es zu schweren gesundheitlichen Schäden führen. Spätestens nach einer halben Stunde wird das Opfer ohnmächtig, nach ein bis vier Stunden tritt der Tod ein.

Zur Verschärfung können die Füße des Opfers mit Gewichten beschwert werden. Dadurch werden die Schmerzen und die Verletzungsgefahr erhöht: Neben Schulterverletzungen kann es auch zu Verletzungen der Hüften und Beine kommen.

Auszug aus „Der Frankfurter Ausschwitzprozess (1963-1965)“, Seite 205:

Die Strafe des Pfahlhängens wurde auf dem Dachboden eines Blocks, zuletzt wohl immer auf Block 11, durchgeführt. Ein schriftliches Verfahren wie bei der Prügelstrafe war hierbei nicht erforderlich. Das Pfahlhängen wird von den Zeugen Pilecki und Windeck wie folgt beschrieben:

Zeuge Jan Pilecki:

„Ich selbst wurde auch einmal an den Pfahl gehängt. Das war etwa im September 1940. … An diesem Balken war ein Haken. Mir wurden die Hände mit einer Schnur über dem Rücken gefesselt. Die Schnur wurde dann in den Haken gehängt, so dass das ganze Gewicht des Körpers an den nach rückwärts ausgestreckten Armen hing. Am Anfang waren die Füße etwa einen halben Meter vom Boden entfernt, Mit dem Nachlassen der Kraft in den Armen sackte der Körper dann immer mehr ab, bis die Füße zum Schluss nur noch wenige Zentimeter über dem Boden waren. Dass es sich hierbei um eine besonders schmerzhafte Tortur handelte, brauche ich wohl nicht besonders auszuführen. Ich habe damals auf Befehl des SS-Oberscharführers Palitzsch etwas eine halbe Stunde hängen müssen. Bei Häftlingen, die länger hängen mussten, wurde das Aufhängen stundenweise vorgenommen. Wer also eine Strafe von vier Stunden erhalten hatte, wurde an verschiedenen Tagen meistens im Abstand von einer Woche je eine Stunde an den Pfahl gehängt.“

Zeuge Josef Windeck:

„Während meines Aufenthalts in Auschwitz habe ich insgesamt fünfmal je 25 Stockhiebe und einmal zehn Stockhiebe öffentlich erhalten … Auch musste ich dreimal je eine Stunde am Pfahl hängen. Der Pfahl befand sich auf dem Dachboden des Blocks 11 im Stammlager. Man bekam die Arme auf dem Rücken zusammengebunden und wurde dann mit nach oben gedrehten Armen an den Haken gehängt, so dann die Füße gut 20 Zentimeter über dem Boden blieben.“

Schon die Beschreibungen sind für mich kaum auszuhalten. Wie können sich Menschen so etwas für Menschen ausdenken. Aber Pfahlhängen war nur ein winziges Detail im Kanon der Folter und Tötungsmethoden des NS-Terrorsystems.

Auf meinem Foto ist nur ein relativ kleiner Haken zu sehen. Trotz der Rostspuren sieht es immer noch stabil aus und auch heute könnte er noch Mordwerkzeug sein. Für mich ist er Mahnung und Erinnerung zugleich und macht den Todesblock zu einem ganz besonderen Erinnerungsort.

Erschießungswand, Auschwitz

Ganz in der Nähe der Pfähle ist ein Ort, an dem Päpste, Präsidenten und auch unsere Kanzlerin ihr Haupt beugten – die Schwarze Wand, die auch Todeswand genannt wird.

Es handelt sich um einen Kugelfang „aus schwarzen Isolierplatten“. Die erste Exekution an der Schwarzen Wand fand am 11. November 1941 statt. Vor der Schwarzen Wand wurden tausende Todesurteile vollstreckt – insbesondere gegen polnische Zivilisten wegen besatzungsfeindlicher Tätigkeit, Widerstandskämpfer und KZ-Häftlinge. Die Todesurteile wurden teils auch von einem Tribunal des Kattowitzer Polizeistandgerichts im KZ Auschwitz ausgesprochen. Dieses Gericht trat ab Januar 1943 alle vier bis sechs Wochen für einen Sitzungstag zusammen und fällte oft über hundert Urteile; zumeist Todesurteile. Unter den Verurteilten befanden sich auch minderjährige und alte Menschen. Die Todesurteile wurden unmittelbar nach ihrer Verkündung durch Genickschuss vor der Schwarzen Wand vollstreckt.

Insgesamt wurden im KZ Auschwitz etwa 20.000 Menschen durch Erschießen an der Schwarzen Wand hingerichtet.

Heute befindet sich im Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau an dem ursprünglichen Aufstellungsort ein originalgetreuer Nachbau der Schwarzen Wand.

Die Schwarze Wand symbolisiert laut dem ehemaligen Auschwitzhäftling Hermann Langbein das polnische Martyrium im Stammlager des KZ Auschwitz. Bis heute ist die Schwarze Wand in der Wahrnehmung vieler Polen eine sehr bedeutende Erinnerungsstätte, bei der zum Opfergedenken Blumen abgelegt werden. Auch Staatsoberhäupter suchen diese Erinnerungsstätte während ihrer Polenvisiten u. a. im Zuge des Jahrestages der Befreiung des KZ Auschwitz auf.

In bildender Kunst, Literatur und Theater steht sie als Symbol für „Bedrohung und Unheil“. Der polnische Schriftsteller Tadeusz Różewicz nutzte die Wand als szenisches Element in einem Theaterstück. Peter Weiss verarbeitete die Thematik in seinem Dokumentarstück „Die Ermittlung“, in dem während des „Gesangs von der Schwarzen Wand“ (7. Bild) Zeugenaussagen von Auschwitz-Überlebenden zu den Hinrichtungen berichtet werden.

Ich habe bei meinen Besuchen in Auschwitz immer wieder vor dieser Wand gestanden. Für mich ist das Foto von der Wand zu einem der wichtigsten Bilder meiner Ausstellung geworden. Oft stand ich ganz nah an der Wand. Ja, ich habe sie auch scheu und neugierig zugleich berührt. Aber das Grauen lässt sich nicht begreifen.

Manchmal schien es mir, als spräche die Wand zu mir. Oft standen Blumen davor oder Grablichter. Ich habe dort nichts abgelegt, außer meinem persönlichen Schwur des „Nie wieder“.

Wenn ich mich an die Wand erinnere, dann erinnere ich mich nicht an eine schwarze Wand. Auch auf meinem Foto ist die Schwarze Wand bleich geworden. Nicht durch die permanente Vergegenwärtigung des Grauens, nicht durch millionenfache Tränen der Trauernden – wohl einfach nur durch Sonne und Regen.

Olaf Eybe