Weihnachten sind die meisten am liebsten zu Hause. Feiern zusammen mit der Familie. Studenten, die an entfernten Orten studieren, machen sich auf den Weg durch die halbe Republik, um zum Fest zuhause zu sein. Eine Umfrage bei den Konfirmanden „Was ist dir das wichtigste am Weihnachtsfest?“ ergab mit überwältigender Mehrheit: Mit der Familie zusammen zu sein und gemeinsam zu feiern. Geschenke waren sehr nachgeordnet. Familie: Eltern, Geschwister, wenn möglich Oma und Opa. Niemand soll, niemand will heute alleine sein. Man rückt zusammen, macht es sich gemütlich. Isst ein festliches Mahl, beschenkt sich, genießt die Zeit. Zuhause ist es am schönsten.
Für viele ist es so, aber nicht für alle. Manche flüchten von zu Hause, gerade jetzt, fliegen in die Sonne, suchen Abstand. Denn zu Hause an Weihnachten ist für sie schwer. Und leer. Zu viele Erinnerungen, zu viel Streit, enttäuschte Erwartungen. Alte Wunden brechen auf und schmerzen wie am ersten Tag. Und die Sehnsucht, sie schmerzt auch: die Sehnsucht nach einem Stück heile Welt, nach Frieden und Dazugehören, gerade heute Nacht, nach einem Ort der Geborgenheit und des Trostes. Nach Nähe. Nach dem Zauber der alten Geschichte vom Kind im Stall.
Zu Hause – das ist widersprüchlich: schön und schwer. Voll Wärme und Licht und kalt und verlassen. Und für einige ganz schön weit weg: für diejenigen, die unfreiwillig unterwegs sind in dieser Nacht, auf der Flucht, im Exil, in der Fremde. Für sie ist zu Hause ein ferner Traum.
Im Predigttext für Heiligabend geht es auch um ein Zuhause, um ein Haus. Der Text führt uns weit zurück zur Vorgeschichte von Weihnachten. In die Königsstadt Jerusalem, zu einem König und seinen Plänen. Hören wir die Worte aus dem 2. Buch Samuel, Kapitel 7, die Verse 1 bis 13:
1 Als nun der König in seinem Hause saß und der HERR ihm Ruhe gegeben hatte vor allen seinen Feinden umher, / 2 sprach er zu dem Propheten Nathan: Sieh doch, ich wohne in einem Zedernhause, die Lade Gottes aber wohnt unter Zeltdecken. / 3 Nathan sprach zu dem König: Wohlan, alles, was in deinem Herzen ist, das tu, denn der HERR ist mit dir. / 4 In der Nacht aber kam das Wort des HERRN zu Nathan: / 5 Geh hin und sage zu meinem Knecht David: So spricht der HERR: Solltest du mir ein Haus bauen, dass ich darin wohne? / 6 Habe ich doch in keinem Hause gewohnt seit dem Tag, da ich die Israeliten aus Ägypten führte, bis auf diesen Tag, sondern ich bin umhergezogen in einem Zelt als Wohnung. / 7 Habe ich die ganze Zeit, als ich mit allen Israeliten umherzog, je geredet zu einem der Richter Israels, denen ich befohlen hatte, mein Volk Israel zu weiden, und gesagt: Warum baut ihr mir nicht ein Zedernhaus? / 8 Darum sollst du nun so zu meinem Knecht David sagen: So spricht der HERR Zebaoth: Ich habe dich genommen von den Schafhürden, dass du Fürst sein sollst über mein Volk Israel, / 9 und bin mit dir gewesen, wo immer du hingegangen bist, und habe alle deine Feinde vor dir ausgerottet; und ich will dir einen großen Namen machen gleich dem Namen der Großen auf Erden. / 10 Und ich will meinem Volk Israel eine Stätte geben und will es pflanzen, dass es daselbst wohne und sich nicht mehr ängstigen müsse und die Kinder der Bosheit es nicht mehr bedrängen, wie vormals, / 11 seit der Zeit, da ich Richter über mein Volk Israel bestellt habe. Ich will dir Ruhe geben vor allen deinen Feinden. Und der HERR verkündigt dir, dass der HERR dir ein Haus bauen will. / 12 Wenn nun deine Zeit um ist und du dich zu deinen Vätern legst, will ich dir einen Nachkommen erwecken, der von deinem Leibe kommen wird; dem will ich sein Königtum bestätigen. / 13 Der soll meinem Namen ein Haus bauen, und ich will seinen Königsthron bestätigen ewiglich.
Ein Zuhause für Gott will David schaffen, jetzt, wo er selber ein prachtvolles Zuhause hat. Ein Haus, das Gott die Ehre gibt, wo man ihm begegnen, ihn loben, zu ihm beten kann. Ein hoher weiter Raum, mit Fenstern, die Licht hereinlassen, mit viel Platz, stillen Winkeln, einem Altar, Kerzen. Ein Gotteshaus.
Ich verstehe David gut. Es hätte etwas, Gott an einem Ort verlässlich anzutreffen. Ein fester Ort der Gottesbegegnung.
So denkt und plant David und über seinen Plänen wird es Nacht. Und in der Nacht meldet sich Gott zu Wort – das heißt es kommt über den Propheten wie eine himmlische Erkenntnis, hell und klar.
Ein Haus für Gott? Fest und unbeweglich? Nein, das passt nicht, überhaupt nicht. Ein Zelt ist viel eher sein Ort, ein leichtes Zelt, das man auf- und abbauen kann, heute hier, morgen an einem anderen Ort. Im Zelt war Gott ja schon mit seinem Volk unterwegs, durch die Wüste ins versprochene Land. Er war mit ihnen gezogen Tag und Nacht, durch Hunger und Durst, Freud und Leid. Der Kasten mit den Zehn Geboten, den sie im Zelt mit sich führten, die sogenannte Bundeslade, war Zeichen für Gottes Gegenwart. Sie waren nie allein.
Dieser Gedanke durchzieht die ganze Bibel: Gott braucht keine Immobilie. Gott ist mit auf dem Weg, den Menschen gehen. Er ist ein Wege-Gott, ein Nomade, mobil und frei.
Später wurde dann doch ein Haus für Gott gebaut, der Tempel in Jerusalem. Salomo, Davids Sohn und Nachfolger, ließ ihn errichten. Für Jüdinnen und Juden aller Zeiten ein heiliger Ort. Bis heute, auch wenn heute nur noch eine einzige Wand steht, die Klagemauer.
Ein Haus für Gott. Problematisch, schon Salomo weiß darum. Er betet am Tag der Einweihung: „Herr, Gott Israels, es ist kein Gott wie du. Siehe, der Himmel und alle Himmel können dich nicht fassen. Wie sollte dich dieses Haus fassen?“ (1. Könige 8,23)
Gott ist frei. Gott lässt sich nicht einsperren, weder in ein Haus aus Stein noch in ein Haus aus Gedanken. Was immer wir von ihm glauben und denken, fasst seine Größe und sein Geheimnis nicht. Gott ist immer mehr, immer anders. Aber Gott will bei den Menschen wohnen, will bei ihnen sein Zelt aufschlagen, er will erfahren werden, mittendrin, nicht an einem abgezirkelten Ort. Sein Name ist „Ich bin da“ und: Immanuel, Gott mit uns, und nicht „ich wohne und ich bleibe hier“. Nein: Ich bin da für dich, wo immer du bist, was immer dir widerfährt.
Viele Jahrhunderte nach David und Salomo ereignet sich das Wort Gottes erneut in einer Nacht. In der Heiligen Nacht auf dem Feld bei Bethlehem. „Euch ist heute der Heiland geboren“, heißt das neue Wort, „der Retter, Christus, der Herr. Ein Kind in Windeln gewickelt und in einen Futtertrog gelegt“. So sagt es der Engel zu den Hirten. Gott will bei den Menschen wohnen, immer noch und immer wieder. Ja, er will selber Mensch werden, und er wird Mensch, wird ein Kind, klein, völlig hilflos. Ein Kind, das man auf den Arm nehmen und wiegen möchte. Ein Gott zum Umarmen.
Wenig fassbar mit dem Kopf, viel eher mit dem Herzen! Gott wird Mensch, um seiner Menschen willen, um unseretwillen. Er wird Mensch, um uns aufrichtiger, friedlicher, versöhnungsbereiter zu machen.
Die Weihnachtsbotschaft ist kaum aktueller und anstößiger als in einer Zeit, in der die Welt immer wieder erschüttert wird. Hinter uns liegt erneut ein Jahr mit viel Unfrieden, viel Gewalt zwischen Menschen, Volksgruppen, Religionen, ein Jahr mit vielen Anschlägen und Terrorgefahr. Es wirkt sich aus in Unsicherheit und Angst, auch bei uns in Essen. Weihnachtsmärkte müssen geschützt werden.
Und dann hören wir: Frieden auf Erden! Und es ist gut, dass wir diese Worte hören, immer wieder und trotzdem: Friede auf Erden. Denn was sonst sollten wir dem Unfrieden entgegensetzen als den trotzigen, widerständigen Glauben, dass es anders sein kann. Denn Gott will bei den Menschen wohnen, immer noch, will mittendrin sein im Leben mit allen Facetten, die dieses Leben hat, Licht und Schatten, Macht und Ohnmacht, Gut und Böse.
Gott wohnt nirgends fest. Er schlägt sein Zelt dort auf, wo man ihm und seinem Wort Herberge gibt: im Zelt der Flüchtlingsfamilie, in einer festlich geschmückten Kirche, in der Einsamkeit eines Herzens, im Krankenzimmer, auf der Straße, im Heim für schwierige Jugendliche. Im kriegszerrütteten Aleppo, im weihnachtlich erleuchteten Wohnzimmer einer Familie in unserer Stadt.
Ich weiß nicht, was Sie an diesen Weihnachtstagen erwartet. Glückliches Feiern in der Familie, gutes Essen – oder ein leeres Zimmer, Erinnerungen an Verlorenes, Fragen, die quälen. Was es auch sei: Nehmen Sie das Wort, das sich an Heiligabend ereignet, mit nach Hause. „Euch ist heute der Heiland geboren“ – „Dir ist heute der Heiland geboren.“ Du darfst das Kind mitnehmen und ihm einen Platz geben. Darfst es auf den Arm nehmen und dich von ihm wärmen und trösten lassen. Die Welt ist kein gottverlassener Ort, trotz allem nicht. Und dein Zuhause braucht es auch nicht zu sein. Gott ist da!
Amen.
Heiner Mausehund