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Ohne Erinnerung keine Zukunft

Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein, denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu. (Offenbarung 21,1-5a)

Siebzig Jahre Kriegsende in Deutschland, in Europa – der 8. Mai 1945 ist der Tag der Befreiung. Aus dieser Befreiung leben wir. So tun wir gut daran, uns zu erinnern. Nicht auszudenken, wie Europa, wie die Welt heute aussähe, wenn Deutschland den Krieg gewonnen und die nationalsozialistische Gewaltherrschaft den Sieg davongetragen hätte. Das wir heute so selbstverständlich in Freiheit leben, ist ganz und gar keine Selbstverständlichkeit.

Ja, wir tun gut daran, uns zu erinnern und der Millionen Opfer des Krieges und der Gewaltherrschaft zu gedenken. Sie mahnen uns und führen uns vor Augen, wie dünn die Haut ist, die wir Kultur nennen und die es uns ermöglicht miteinander zu leben, ohne übereinander herzufallen. Sie mahnen uns zu bedenken, wie wenig es bedarf, um die Fratze des Bösen durchscheinen zu lassen – bei jedem von uns. Sie mahnen uns zu bedenken, wie wenig es bedarf, das Menschen ihre Überzeugungen und Werte, ihre Kultur und ihren Glauben verraten und aus Nachbarn plötzlich die einen zu Tätern, die anderen zu Opfern und wieder andere zu Zuschauern werden.

Darum müssen wir uns erinnern, dafür sensibel werden, denn: wer von uns weiß schon im Vorhinein, auf welcher Seite er oder sie einmal stehen wird, oder ob er, ob sie die Kraft aufbringen wird, zu widerstehen? Da ist noch nichts ausgemacht. Die Befreiung, aus der wir leben, muss ständig neu errungen, erkämpft, geschätzt und einander zugestanden werden. Darum ist das Erinnern, das Gedenken so wichtig, und zwar so lange, bis wir all unsere Kraft, all unser Tun und Denken für die Bewahrung des Lebens, für den Frieden und die Gerechtigkeit einsetzen, so auch im Eintreten für die Flüchtlinge in unserem Land und im Engagement für Gerechtigkeit in ihren Herkunftsländern, im Aufstehen gegen Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit, im Gesicht zeigen gegen Neonazis und menschenverachtendes Gedankengut…

Freiheit gibt es nicht umsonst. Für die Freiheit muss man eintreten, jeder und jede und das immer. Das lehrt uns die Geschichte. Und letztlich wird auch unsere Freiheit in unserer globalisierten Welt mit davon abhängen, wie viel Freiheit und Lebensmöglichkeiten die Menschen weltweit haben. So steht die Frage im Raum: in was für eine Welt entlassen wir unsere Kinder? Krieg, Terror, Armut, Umwelt, Flüchtlinge – haben wir uns damit abgefunden? Haben wir noch einen Traum? Haben wir noch einen Traum vom Leben?

Nicht einen Traum von Geld und Reichtum und Urlaub. Einen Traum von Leben. Einen Traum, der dem Irrsinn von Macht und Krieg standhalten kann, einen Traum, der leben lässt und Leben eröffnet, einen Traum, der gespeist wird vom Traum Gottes für die Menschen und die Welt: „Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein, denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu“ (Offenbarung 21,1-5a). Dieser Traum Gottes für uns lässt uns die Kraft finden, wirklich zu erinnern und zu gedenken und die sinnlosen, grausamen Opfer unserer Welt nicht zu vergessen, sondern uns als Mahnung fürs Leben vor Augen zu führen, Leid und Unrecht zu benennen und uns dagegen zu stellen.

Dass uns dabei die Kräfte nicht verlassen, dafür hat uns Gott mit seiner weitreichenden Hoffnung beschenkt. Und so erzählen und leben wir diese Hoffnung, wenn auch in aller Vorläufigkeit. Darauf wartet die Welt. Noch bleibt fast alles zu tun. Wir aber gründen uns auf die Verheißung Gottes und finden die Kraft, der Opfer zu gedenken, Krieg, Unrecht und Gewalt zu widerstehen und für die Freiheit einzutreten, in der Gewissheit, wie Gustav Heinemann es einmal formulierte, dass „die Herren dieser Welt gehen, aber unser Herr kommt“.

Christoph Ecker