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Martin Luther – Schutzpatron der Wutbürger?

Was ist Wahrheit? Das klingt zunächst einmal nach einer sehr abstrakten, eher philosophischen Frage. Als vor 2000 Jahren Pontius Pilatus, der römische Militärchef in Palästina, diese Frage an Jesus stellte, bevor er ihn zum Tode verurteilte, lag die Antwort auf diese Frage auf der Hand – und sie war tödlich: Wahrheit ist eine Frage der Macht. Wer die Macht hat, hat auch die Wahrheit. Und so blieb es über Jahrhunderte. Bis 1500 Jahre nach dem Tod Jesu ein bis dahin unbekannter Mönch namens Martin Luther wagte, die Frage nach der Wahrheit vor den Abgesandten des Kaisers und des Papstes anders zu beantworten: „Wider das Gewissen zu handeln ist beschwerlich, unheilsam und gefährlich.“

Martin Luther wusste, dass er bessere Überlebenschancen mit dieser Antwort hatte als damals Jesus. Er wurde von einflussreichen Politikern seiner Zeit unterstützt und geschützt, die ihrerseits mit Papst und Kaiser um die Machtfrage stritten.

Wichtiger ist jedoch, wie Martin Luther seinen Widerspruch begründete. „Wenn ich nicht aus Gründen der Heiligen Schrift und der Vernunft widerlegt werde, kann ich die von mir verfassten Schriften gegen den Ablasshandel der Kirche nicht widerrufen.“ „Faktencheck“ – so würde man das heute nennen. Die mittelalterliche Kirche berief sich – wie Luther – auf die Bibel. Aber sie akzeptierte nur ihre eigene Auslegung und weigerte sich, mit Luther über die Auslegung der Bibel zu streiten. Weil sie bisher gut damit gefahren war, die Wahrheitsfrage mit der Machtfrage zu verknüpfen.

Aber das änderte sich nun. Die reformatorische Bewegung wurde eine Bildungsbewegung. Die Bibel wurde in die Landessprachen Europas übersetzt. Die Menschen lernten lesen und schreiben. Plötzlich konnten sich viele am „Faktencheck“, am Streit um die Wahrheit beteiligen. Übrigens nicht nur, wie die Reformationszeit zeigte, in religiösen Fragen. Auch in Fragen von Armut und Reichtum, von Politik und Obrigkeit.

„Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ So spitzte der Philosoph Immanuel Kant im Jahr 1784 die Aufforderung zum immer neuen „Faktencheck“ zu. Denn nur so kann das Ziel der „Aufklärung“ erreicht werden: „Der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.“

Seit der Zeit der Aufklärung gibt es zumindest zwei Antworten auf die Frage nach der Wahrheit. Zum einen noch immer die traditionelle Antwort, dass Wahrheit eine Machtfrage ist. Wo das gilt, wird auch vor öffentlichen Lügen und gezielter Manipulation nicht zurückgeschreckt. Und zum anderen die Antwort der Aufklärung, dass die Wahrheit immer neu dem „Faktencheck“ standhalten und durch öffentlichen Streit der Meinungen ausgehandelt werden muss.

In jüngster Zeit hat sich, so scheint es, nun noch eine dritte Antwort auf die Wahrheitsfrage herausgebildet: Die „gefühlte“ Wahrheit des öffentlichen Volkszorns. Nun hat es zwar immer schon Proteste des „Volkes“ gegen ihre Regierungen gegeben. Und auch immer schon Versuche der jeweils Regierenden, das „Volk“ durch Propaganda und Desinformation zu manipulieren. Aber im Hintergrund war dabei doch immer noch klar, was durch den „Faktencheck“ als Lüge entlarvt werden konnte – selbst wenn das dann nicht öffentlich gesagt werden durfte.

Was sich aber in den letzten Jahren verändert hat ist dies:

Durch die Entwicklung der Computernetzwerke und der Internetforen ist eine neue Ebene von Öffentlichkeit entstanden, in der sich Menschen anonym äußern können, ohne dass sie Argumente und Belege für ihre Meinungen liefern müssen. Man kann den Eindruck gewinnen, dass in dieser Art von Öffentlichkeit nicht mehr der „Faktencheck“ als sachliches Argument zählt, sondern nur noch Gefühle wie Empörung gegen „die da oben“ (Regierungen, EU) und Abwehr gegen „die, die uns fremd sind“ (Ausländer, Flüchtlinge, sexuelle Minderheiten).

Mittlerweile kann man im Verhalten und in den Wahlkämpfen von zunehmend mehr Politikern beobachten, wie mit der „gefühlten“ Wahrheit des öffentlichen Volkszorns auch reale Politik gemacht (oder zumindest angekündigt) wird. Selbst dann, wenn die dahinter stehenden Annahmen und Behauptungen keinem „Faktencheck“ standhalten.

„Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ – so (oder ähnlich) soll es Martin Luther vor 500 Jahren gesagt haben. Aber nicht deshalb, weil er wütend auf die Kirche und die Obrigkeit war. Sondern weil er, der selber zutiefst gelitten hatte an den „gefühlten“ Wahrheiten von Höllenangst und der Weltuntergangsstimmung seiner Zeit, eine befreiende Wahrheit gefunden hatte, die er nicht wieder preisgeben wollte. Nämlich seine grundlegende reformatorische Erkenntnis: Trau nicht deinen schwankenden Gefühlen zwischen Verzweiflung und Allmachtswahn. Trau der Wahrheit, die außerhalb von dir ist – in den Zusagen der Heiligen Schrift und im „Faktencheck“ durch die aufklärende und erhellende Vernunft. Wie es scheint, eine immer noch höchst aktuelle Einsicht, wenn es heute um die Frage nach der Wahrheit geht.

Ulrich Holste‐Helmer