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Martin Luther: Nun freut euch, lieben Christen g’mein

Das schon im Kulturhauptstadtjahr 2010 entstandene Pop-Oratorium „Die Zehn Gebote“ ist der Vorläufer des ungeheuer erfolgreichen Pop-Oratoriums „Luther“ aus der Wittener Creativen Kirche. In diesem fantastischen Werk kommt die fröhlich-ermunternde Melodie von Luthers Lied von 1523 in den schönsten rhythmischen Variationen unter anderen Texten wunderbar eingehend zum Klingen (vgl. EG 341). Ich behaupte jetzt: in keinem anderen Lied des Reformators Martin Luther kommt im Text der zehn Strophen und auch vor allem in der von ihm komponierten Melodie die Freude und die Munterkeit des befreiten Mönchs Martin mehr zum Ausdruck.

„Nun freut euch, lieben Christen g´mein, und lasst uns fröhlich springen, dass wir getrost und all in ein mit Lust und Liebe singen“ (Strophe 1). 1523 war Luther gerade vierzig Jahre alt. Da konnte er noch springen, später nicht mehr. Aber singen konnte er bis zu seinem Tode als 63-Jähriger. Wie steht es bei uns? Was können wir noch und was nicht mehr?

„Dem Teufel ich gefangen lag“ (Strophe 2). Gibt es eine schärfere Aussage? Wer den Holzschnitt „Ritter, Tod und Teufel“ von Albrecht Dürer kennt, der kann sich eine anschauliche Vorstellung vom Bösen im 16.Jh machen. Ob Bruder Martin als Junker Jörg in seinem kleinen Wartburgzimmer nach ihm mit dem Tintenfass geworfen hat oder nicht, lässt jedenfalls die Realität der bösen Mächte erkennen. Für Luther ist die unheiligste Trinität des Bösen: Sünde, Tod und Teufel. Der Teufel ist der Fürst dieser Welt (vgl. Lukas 4,6), aus dessen Macht die Menschen sich nicht selbst befreien können. Das Ziel des Diábolos, d.h. wörtlich des Zertrenners, wie der Teufel neben dem Satan im Neuen Testament auch genannt wird, ist es, den Menschen zu verderben. Er will ihn von Gott trennen. Sein Wesen sind Sünde und Lüge (vgl. Johannes 8,44; 1. Johannes 3,8).

„…im Tod war ich verloren, mein Sünde quält mich Tag und Nacht, darin ich ward geboren. Ich fiel auch immer tiefer drein, es war kein Guts am Leben mein, die Sünd hatt´ mich besessen“ (Strophe 2). Das hatte Diábolos beim tadellosen Augustiner-Eremiten-Bettelorden-Mönch Martin Luther in Erfurt geschafft. Martin betete unaufhörlich, fastete streng und bettelte sich wie seine Mönchsbrüder die Speisen zusammen. Er schrubbte den Fußboden und mühte sich mit anderen Arbeiten und fühlte sich trotz allem von der Sünde besessen wie von einer schrecklichen Krankheit.

„Die guten Werk (die ich gerade eben aufgezählt habe), die galten nicht… Die Angst mich zu verzweifeln trieb, dass nichts denn Sterben bei mir blieb, zur Höllen musst ich sinken“ (Strophe 3). Luther hatte sich nichts vorzuwerfen, dennoch ist er der Verzweiflung nahe gewesen. Warum? Weil seine Beziehung zu Gott zerschnitten war, so sehr er sich um einen gnädigen Gott auch bemühte.

Das können wir heute nur sehr schwer verstehen. Wir bemühen uns nicht um einen gnädigen Gott. Wenn, dann um Gott überhaupt. Dennoch beten alle Christen auf Erden: Erlöse uns von dem Bösen, eben vom satanischen Trenner, vom Mephisto, wie er in Goethes Faust heißt und sein Riesenwerk betreibt. Auch bei unserm lieben Herrn Jesus hat er es mit aller seiner satanischen Macht versucht, vergeblich (vgl. Lukas 4,1-13).

Jetzt werden wir einen großen Sprung vom 40-jährigen zum 62-jährigen Martin Luther machen („lasst uns fröhlich springen“). Ein Jahr vor seinem Tode berichtet Luther:

„Ein ganz ungewöhnliches Verlangen hatte mich gepackt, Paulus im Römerbrief zu verstehen. Ich aber, der ich mich, so untadelig ich als Mönch lebte, vor Gott als Sünder von unruhigstem Gewissen fühlte…, liebte nicht, nein hasste den gerechten und die Sünder strafenden Gott (vor dem Steinrelief des richtenden Christus an der Wittenberger Stadtkirche hatte er sich immer beim Vorbeigehen die Augen zugehalten) …so raste ich wilden und irren Gewissens… und so klopfte ich beharrlich bei Paulus an, mit glühend heißem Durst, um zu erfahren, was St. Paulus wolle. Bis ich, dank Gottes Erbarmen, unablässig Tag und Nacht darüber nachdenkend, auf den Zusammenhang der Worte achtete: der Gerechte lebt aus Glauben (vgl. Römer 3,28. „allein“ – „sola“ – fügt Luther bekanntlich dem griechischen Text hinzu). Da hatte ich das Empfinden, ich sei geradezu von neuem geboren und durch die geöffneten Tore ins Paradies selbst eingetreten. So sehr ich die Vokabel ‚Gerechtigkeit Gottes‘ vorher hasste, so pries ich sie nun mit entsprechend großer Liebe als das mir süßeste Wort. So ist mir diese Paulus-Stelle wahrhaftig das Tor zum Paradies geworden.“

Luthers Abrackerei als Mönch fällt ganz tief und der Glaube steigt ganz himmelhoch. Luther hatte eine dramaturgische Ader. Das erkennen wir in der Dialogform in seinem grandiosen Lied: „Nun freut euch, lieben Christen g´mein“ (vgl. Strophe 4 bis 10) des jungen, 40-jährigen Reformators.

Als erster spricht der barmherzige Gott-Vater zu seinem lieben Sohn. Der Sohn antwortet durch seinen Gehorsam dem Vater gegenüber. Dann spricht der Mensch gewordene Sohn zum Menschen Martin in seiner „armen Gestalt“. Und er handelt für ihn aus Liebe zu ihm. Dann fährt der Sohn wieder zurück zum himmlischen Vater. Zurück bleibt der befreite Luther mit der Aufgabe, die sündigen Menschen die Wahrheit zu lehren und sie so zu befreien.

Strophe 4: „Da jammert Gott in Ewigkeit mein Elend übermaßen; er dacht an sein Barmherzigkeit, er wollt mir helfen lassen; er wandt zu mir sein Vaterherz, es war bei ihm fürwahr kein Scherz, er ließ ´s sein Bestes kosten.“ Gottes Heilswirken in Jesus Christus ist in Ewigkeit vom barmherzigen Vater beschlossen. Das Leiden und Sterben scheint hier schon auf. Das Leben seines einzigen, geliebten Sohnes, an dem er Wohlgefallen hat (vgl. Markus 1,11) gibt er für ihn und uns dem Tode am Fluchholz des Kreuzes hin.

In Strophe 5 beginnt der Dialog. Der Vater redet seinen lieben Sohn unerhört lebendig an: „Die Zeit ist hier zu erbarmen; fahr hin, meins Herzens werte Kron, und sei das Heil dem Armen und hilf ihm aus der Sünden Not, erwürg für ihn den bittern Tod und laß ihn mit dir leben.“ Dreimal „ihn“, den unter seiner Sünde leidenden Martin, der sich den gnädigen Gott selbst herbeizwingen will. Sünde und Tod sollen für Martin durch Jesus besiegt werden. Der Teufel kommt in der nächsten Strophe dran.

Strophe 6: „Der Sohn dem Vater g´horsam ward, er kam zu mir auf Erden von einer Jungfrau rein und zart; er sollt mein Bruder werden“. Das Weihnachtswunder und die Inkarnation, die Menschwerdung Jesu Christi, seine „Bruderwerdung“ erscheinen. Bruder Jesus „führt gar heimlich sein Gewalt, er ging in meiner armen G´stalt“ und will den „Teufel fangen“. Luther ist an Anschaulichkeit nicht zu überbieten.

In der folgenden siebten Strophe kann die Liebe Jesu zum Menschen, hier zum Bruder Martin, gar nicht schöner zum Ausdruck kommen. Luther lässt nun Jesus selbst zu Worte kommen; er spricht zu Martin: „Halt dich an mich, es soll dir jetzt gelingen; ich geb mich selber ganz für dich, da will ich für dich ringen, denn ich bin dein und du bist mein, und wo ich bleib, da sollst du sein, uns soll der Feind nicht scheiden.“ So sprachen Liebende im Mittelalter zueinander: „Ich bin dein und du bist mein, des sollst du gewisse sein“ (Walter von der Vogelweide). So sprechen Liebende noch heute, wenn es denn wirklich Liebe ist.

In den Strophen 8 und 9 spricht der Heiland selbst nun weiter. Er blickt voraus auf sein Leiden und Sterben, auf sein Auferweckt werden durch den Vater und auf seine Erhöhung zu Gott-Vater. „Vergießen wird er mir mein Blut“ … Wer ist er? Der Feind, die unheilige Trias Sünde, Tod und Teufel. … “dazu mein Leben rauben“ durch das Fluchholz des Kreuzes. Und warum das alles? „…das leid ich alles dir zugut, das halt mit festem Glauben. Den Tod verschlingt das Leben mein, mein Unschuld trägt die Sünde dein, da bist du selig worden.“ Für dich, lieber Martin, und für uns (Luthers berühmtes: pro nobis). Auch diese harten Sätze singen wir alle in seiner wunderbar rhythmischen Melodie, die durch das Pop-Oratorium wieder populär geworden sind.

In der vorletzten, neunten Strophe kleidet Martin Luther die gesamte Christuslehre, die Christologie, in seine wunderbaren Verse: „Gen Himmel zu dem Vater mein fahr ich von diesem Leben (Himmelfahrt); da will ich sein der Meister dein, den Geist will ich dir geben (Pfingsten), der dich (und uns) in Trübnis trösten soll und lehren mich (und die ganze Christenheit) erkennen wohl und in der Wahrheit leiten“.

Strophe 10 hat es in sich. Der Mund und die Sprache Luthers fasst Jesu Auftrag an seine gesamte Christenheit auf Erden zusammen: „Was ich getan hab und gelehrt (Tat und Wort des Heilands), das sollst du (Martin) tun und lehren, damit das Reich Gotts werd gemehrt zu Lob und seinen Ehren.“ Und was der Reformator tut und lehren will, lässt Luther den Heiland deutlich als Warnung sagen: „und hüt dich vor der Menschen Satz (Lehre), davon verdirbt der edle Schatz: das lass ich dir zur Letzte“ (alle Ergänzungen in Klammern von mir).

Die Christenheit in der Welt hat sich in ihrer Geschichte dagegen sehr versündigt. Aber Luther sagt dennoch: du bist als Glaubender „gerecht und Sünder zugleich“ (simul iustus et peccator). Der Eintritt ins neue Verständnis des gerecht-Seins war für Luther der Eintritt ins Paradies.

Peter Beier, Präses unserer Kirche im Rheinland, der am 10. November 1996 im Alter von 61 Jahren viel zu früh verstorben ist, hat seinen Bericht vor seiner vorletzten Landessynode 1995 in folgendem Text enden lassen, der eine hervorragende Interpretation des simul iustus et peccator Martin Luthers ist:

„Der Sünder im Gespräch mit sich selbst

Lass dir gesagt sein, wogegen sich alles in dir wehrt: Du bist ohne Verdienst geliebt.
Mache dich vor niemandem besser als du bist. Mache dich vor niemandem schlechter als du bist. Mißtraue deinen Grundsätzen. Bilde dir keine Sekunde ein, du habest etwas zustande gebracht. Rechtfertige dich nicht durch Lächerlichkeiten. Bilde dir keine Sekunde ein, du könntest dich aus eigener Kraft ändern. Bilde dir keine Sekunde ein, du könntest Menschen ändern.
Tue dennoch alles, was zu tun in deiner Kraft steht. Schließe Irrtum nie aus, sondern ein. Urteile trefflich, verurteile niemanden. Bleib unberechenbar, wenn es gilt, den Schwächern zu verteidigen.
Treibe keine Possen im gerade gastierenden Weltanschauungszirkus. Halte deine Ehre nicht fest; sie fährt dahin wie ein Stück Holz auf einem Strom.
Stecke deinen Kopf nicht in den Nebel der Welträtsel. Du löst sie nicht. Bei der Wahl zwischen Schuld und Schuld wähle tapfer. Geht dir das Todeswasser über die Seele, flieh in die Psalmen. Lebe deine Tage. Es sind lauter letzte. Du wirst enttäuscht, wie du andere enttäuschst.
Jesus täuscht nie.“

Eckhard Schendel