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Hoffnung oder Erwartung?

Worauf hoffen die Menschen? Das kommt darauf an, in welchen Situation sich die Menschen befinden. Denn die Hoffnung braucht einen Anlass. Normalerweise jedenfalls. Wer krank ist, hofft auf Besserung. Wer in zwei Schulfächern auf der Kippe steht, hofft auf die Versetzung. Wer eine neue Arbeitsstelle antritt, hofft auf Erfolg. Und so weiter. Der Alltag, denke ich, ist voller Hoffnungen.

Und alle sind in die Zukunft gerichtet. Und alle hoffen auf Änderung. Und alle hoffen auf eine positive Entwicklung, zuerst einmal für den Hoffenden selbst.

Aber Hoffnung kann auch Grenzen überspringen. Die Kinder sind weit weggezogen. Ich kann hoffen, dass es ihnen gut geht. Die politische Lage ist unklar. Ich kann hoffen, dass die Politiker gute Lösungen finden. Viele Teile des Waldes sind krank. Ich kann hoffen, dass mehr Regen fällt und die Bäume sich erholen. Hier sieht sich der Hoffende in einer engeren oder weitläufigen Beziehung zu den Personen, Verhältnissen und Objekten, für die er Wohlergehen oder Besserung erhofft, die auch ihm selbst indirekt zu Gute kommt.

Die sachliche Schwester der Hoffnung ist die Erwartung. Die Grundlage für Erwartungen sind Macht, Geld und Produktivität. Der Anleger erwartet Gewinn. Wer Strafzölle verhängt, erwartet günstige produktive Weichenstellungen. Wer auf Elektromobilität setzt, erwartet bessere Absatzchancen. Wer in Werbung investiert, erschließt und nutzt psychische Dispositionen von Käufern und erwartet mehr Absatz.

Erwartungen sind kalkulierte Zugriffe auf die Zukunft. Sie strukturieren die Zukunft durch Maßnahmen. In den Maßnahmen, die ins Werk gesetzt werden, wird die in den Blick genommene Zukunft geradezu vorweggenommen. Die Zukunft wird bilanziert, unter Kontrolle gebracht, den eigenen Zwecken unterworfen. Folgerichtig formuliert VW angesichts eines Plans, ein Werk in China zu bauen:

Ein Unternehmen könne seine Entscheidungen über neue Standorte am Ende nur mittels ökonomischer und strategischer Erwägungen treffen, „zum Beispiel Finanzierung, Ertragskraft, Absatzerwartungen“ (DIE ZEIT vom 12. Dezember 2019, S.25, Hervorhebung von mir).

Das ist bei den Hoffnungen, die wir mit unserem Glauben haben, anders.

Im achten Kapitel des Römerbriefs sagt uns Paulus: „Wir sind wohl selig, doch in der Hoffnung.“ Er sagt auch: „Hoffnung lässt nicht zu Schanden werden.“ Und schließlich: „Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal.“ Gilt das heute noch?

Unser gesamter Glaube lebt von der Hoffnung. In unserem Gesangbuch gibt es ein ganzes Lieder-Kapitel mit der Überschrift „Glaube – Liebe – Hoffnung“. Im Gottesdienst singen wir: „Alles ist an Gottes Segen und an seiner Gnad gelegen über alles Geld und Gut. Wer auf Gott sein Hoffnung setzet, der behält ganz unverletzet einen freien Heldenmut.“

Und die vierte Strophe verheißt: „Hoffnung kann das Herz erquicken; was ich wünsche, wird sich schicken, wenn es meinem Gott gefällt. Meine Seele, Leib und Leben hab ich seiner Gnad ergeben und ihm alles heimgestellt“ (Lied EG 352). Eines der neu formulierten Glaubensbekenntnisse (EG 817) schließt: „Mit der ganzen Schöpfung hoffen wir auf das Kommen des Reiches Gottes.“

Noch einmal: Gilt das heute noch?

Die Gruppe derer, deren Lebenshoffnungen mit Gottes Botschaft für seine Schöpfung verknüpft sind, wird dramatisch kleiner. Gemeinden werden kleiner, Kirchtürme verschwinden. Was wir in unserer Zeit erleben, ist erst der Anfang. Immer mehr Menschen brauchen diese Hoffnung nicht. Immer mehr brauchen auch nicht, was als Inhalt untrennbar in diese Hoffnung eingeschlossen ist: Freundlichkeit zu und Rücksicht und Achtung gegenüber den Mitgeschöpfen und Bewahrung der Schöpfung als Lebensraum für uns und die Nachkommen.

Für die, die bleiben, steht fest: Wir leben in Gottes Schöpfung. Der Verfasser des Hebräerbriefes mahnt die Adressaten: „Lasst uns am Bekenntnis der Hoffnung unerschütterlich festhalten; denn treu ist der, welcher die Verheißung gegeben hat. Und lasst uns auch aufeinander achtgeben, um uns gegenseitig zur Liebe und zu guten Werken anzuregen“ (Hebräer 10,23).

Schöpfungshoffnung und Schöpfungsgemeinschaft gehören zusammen. In dieser Gewissheit sind wir auf dem Weg mit einem wunderbaren offenen Lebenshorizont.

Hans Erlinger