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Hausbesuch

Sie geht mir nach: Die Begegnung mit einem alten Mann, gestern Nachmittag.

Ein ganz normaler Hausbesuch – bei netten älteren Herrschaften, feinen gebildeten Leuten, die immer zur Kirche kamen, als sie es noch konnten. Der Mann ist fast neunzig Jahre alt – manches hat nachgelassen; wie das Leben so verläuft. Kein Wunder, keine Überraschung. Darauf bin ich gefasst, wenn ich Seniorinnen oder Senioren besuche. Milde gestimmt, bereit allerlei Wunderlichkeiten zu tolerieren, mir fremden Einschätzungen von Wirklichkeit nicht zu widersprechen.

Wir haben geredet über die Kinder und Enkel, die Dankbarkeit, dass das Paar immer noch beisammen ist, die Gottesdienste im Fernsehen, die jetzt den Kirchgang ersetzen müssen.

Da redet der Mann plötzlich eine andere Sprache. Ich war fünfzig Monate in russischer Kriegsgefangenschaft. Zuvor im Krieg. Wissen Sie, was das heißt, Frau Pastorin? Ich habe Dinge gesehen, die sind so furchtbar, dass ich sie meiner Frau und meinen Kindern nicht erzählen kann. Das wollte ich ihnen nicht antun. Aber ich träume des Nachts davon – immer öfter, je mehr meine Kräfte nachlassen, je schwerer fällt es mir, die Alpträume zu unterdrücken. Die Grauen holen mich ein.

Ich, die Pfarrerin, schäme mich plötzlich. Ich hatte mich nicht eingerichtet darauf, einem Menschen wirklich zu begegnen – ich wollte im Vorbeigehen einfach nett sein. Aber das reicht nicht. Der alte Mann hat mich das, was Seelsorge bedeutet, neu gelehrt.

Anke Augustin