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Frei-Räume

Du stellst meine Füße auf weiten Raum. (Psalm 31,9)

Der Sommer ist Festivalzeit. Ein Festival liegt schon länger zurück und dennoch beschäftigt es mich innerlich immer noch: Am letzten April-Wochenende hat das 3. KURZStummFilmFestival auf Zeche Carl stattgefunden. Das Festival ist aus der Arbeit mit gehörlosen bzw. hörgeschädigten Jugendlichen entstanden.

Die Stadt Essen ist nämlich eines der größten Bildungszentren für Hören und Kommunikation im gesamten Bundesgebiet. Obwohl das vielen nicht bewusst ist, gibt es hier bei uns in Essen ein herausragendes Angebot in der Aus- und Weiterbildung gehörloser und schwerhöriger Schülerinnen und Schüler. Im Rheinisch-Westfälischen Berufskolleg für Hörgeschädigte in Frohnhausen streben etwa 900 Jugendliche und junge Erwachsene ihren Schul- oder Ausbildungsabschluss an. Mehr als ein Drittel dieser Schülerinnen und Schüler leben während dieser Zeit in den beiden Internaten des Diakoniewerks Essen für hörgeschädigte Schülerinnen und Schüler, in der Curtiusstraße oder im Internatsbereich des Fritz-von-Waldthausen-Zentrums.

Das Festival wird unter anderem vom Diakoniewerk Essen, von der Evangelischen Jugend Essen und vom Landesverband der Gehörlosen NRW veranstaltet. Die Organisatoren Simone Bury, Mitarbeiterin des Diakoniewerks, und Richard Poser von der Buschhütte der Evangelischen Jugend, hatten beim dritten Festival für alle Filme das Thema „Raum“ vorgegeben. Die Kurzfilme durften zwischen einer und elf Minuten lang sein und keine Laut- und/oder Gebärdensprache enthalten. 42 Filme aus dem ganzen deutschsprachigen Raum wurden eingereicht – ein neuer Rekord!

Mir ist zum vorgegebenen Thema „Raum“ sofort das Bibelwort aus Psalm 31,9 eingefallen: „Du stellst meine Füße auf weiten Raum“. Es war im Prozess der Erstellung der Essener Kirchenkreis-Konzeption von zentraler Bedeutung. Die 42 Filme haben mir tatsächlich unterschiedliche Raumperspektiven eröffnet und den Blick geweitet. Mehr noch, das Festival hat mir geholfen, das Psalmwort besser zu verstehen. Was macht heute Räume eng? Wo brauchen wir Gott, der unsere Schritte fest macht und weite Räume auftut? Wie ist Gott unterwegs zu erahnen?

Einige Filme thematisierten, wie wichtig die Gestaltung von Räumen für die ist, die darin wohnen. Sie zeigten etwa ältere Menschen, die mit gerahmten Fotos oder Bildern an der Wand ihres Zimmers Anregungen hatten für vielfältige Erinnerungen. Dankbarkeit wurde so sichtbar. Die Fotos konnten im Falle eines Falles einen verstorbenen Menschen nicht ersetzen. Aber sie halfen, gute Erinnerungen wach zu halten, eine Beziehung anders zu pflegen, sich den eigenen Wert ins Gedächtnis zu rufen, selbst wenn manches nicht mehr so lebenswert erschien wie früher. Überlegen Sie einmal, wie Sie Ihre Räume, Ihr Zimmer zuhause gestalten, damit Sie sich dort wohlfühlen. Und wenn ich an diakonische Einrichtungen denke: Wie selbstverständlich ist es inzwischen, dass Bewohnerinnen und Bewohner etwa in Senioreneinrichtungen, aber auch in Einrichtungen der Behinderten- oder der Jugendhilfe ihre Zimmer und Wände selber gestalten! In Grenzen, klar, und doch ist das ein enormer Gewinn an Lebensqualität im Vergleich zu früheren Zeiten.

Einige Filme machten zum Thema, wie Räume unbewohnbar werden. Im Film „Der Messi“ verwandelte ein Jugendlicher, Fan des Fußballstar Messi, seine Wohnung in eine Müllkippe. Das lässt sich leicht verurteilen. Von Mitarbeitenden im Betreuten Wohnen wie aus meiner Zeit als Gemeindepfarrer weiß ich allerdings, wie schwer eine solche Vermüllung allein mit auszuhalten ist, geschweige denn verhindert werden kann. Das Recht auf Selbstbestimmung hat in unserem Land zurecht sehr großes Gewicht. Doch die Grenze, wann eine Gefährdung des eigenen oder des Lebens eines anderen vorliegt, ist bei Messis selten erreicht. Die Handlungsmöglichkeiten anderer sind dadurch äußerst beschränkt. Vielleicht kennen Sie solche Situationen, die das Leben im eigentlich vorhandenen Raum für Betroffene immer mehr einschränkt, und für die Umgebung mit.

Noch komplizierter wird es, wenn gar kein Raum zum Wohnen da ist. Davon erzählte der Film „Wohnen oder nicht wohnen“. Die kleinen oder großen Sorgen im Leben einer Wohngemeinschaft wurden am Ende des Films in Beziehung gesetzt zum Leben von Menschen auf der Straße, also von Menschen ohne eigenen Wohnraum. Das relativierte das alltägliche WG-Leben ziemlich. Was das für Betroffene heißt, wie sie sich wohnungslos durchschlagen, davon können speziell die Mitarbeitenden in Einrichtungen des Diakoniewerks für Wohnungslose, etwa im Sozialzentrum Maxstraße und in der Notübernachtung Lichtstraße, Geschichten erzählen, viel zu viele Geschichten. Sie stehen Menschen zur Seite, wenn sie versuchen, wieder auf die Beine zu kommen, sich sozusagen Räume in ihrem Leben zurückzuerobern. Doch den Mangel auf dem Markt für Sozialwohnungen können sie nicht verändern, und das hat wiederum Auswirkungen auf die Wohnungslosen und auf die Arbeit der Mitarbeitenden mit ihnen.

Ungeahnte Dimensionen im Raum erschließen uns die neuen sozialen Medien. Solche Welten und Landschaften führte der Film „Am Ende der Räumlichkeit“ vor Augen. Je länger der kurze Clip dauerte, desto weniger war klar, was davon „real“ war, was „erfundene“ Landschaften. Genauso verschieben die virtuellen Möglichkeiten unser Verständnis von Raum und Zeit. Das sind Dimensionen, die der Psalmbeter sich nie hätte vorstellen können. Dennoch ist seine Hoffnung auf weite Flächen, in denen ich mich frei bewege, erstaunlich aktuell und zuvor völlig undenkbare Möglichkeiten kommen ins Spiel. Und gegen alle Unkenrufe machen die neuen Medien das Leben ja viel weiter und engen Menschen nicht in erster Linie ein.

Natürlich war auch die Kehrseite der Entwicklung Thema. Mit viel Humor brachte „WatchMe“ das Dilemma auf den Punkt. Eine junge Frau bekam von ihrem Smartphone und anderen technischen Hilfsgeräten an ihrem Körper immer die genauen Vorgaben, woran sie zu denken habe und was sie bloß nicht vergessen solle, um ihren Alltag richtig und möglichst vollkommen zu bewältigen. „Noch nicht im App-Store verfügbar“ wurde abschließend eingeblendet. Gott sei Dank, atmeten wie ich wahrscheinlich die meisten im Publikum auf.

Das, was Digitalisierung als Chance für die Zukunft ermöglicht und das, was zugleich als Gefahr droht, wurde da für mich gut auf den Punkt gebracht. Wie kann unsere Selbstbestimmung über unsere Bewegungen im Raum, in unserem Leben überhaupt und die Vielzahl an Erleichterungen ausbalanciert werden mit den Kontrollmöglichkeiten und Stressfaktoren, die damit Hand in Hand gehen? Neben allen Anstrengungen, den Datenschutz und die Kontrolle über Internet-Riesen wie Amazon, Google, Facebook & Co zu verstärken, braucht es auf der anderen Seite die innere Freiheit, souverän mit den stetig wachsenden Potentialen vernünftig umzugehen. Die Freiheit des Glaubens wird in dieser Hinsicht eigentlich noch wichtiger als sie es sowieso schon immer war. Die „Zuversicht und Erkenntnis göttlicher Gnade macht fröhlich, trotzig und lustig gegen Gott und alle Kreaturen“ – so hat es Martin Luther fein formuliert. Diese Zuversicht müsste im Zeitalter der Digitalisierung eigentlich Hochkonjunktur haben!

Natürlich gab es wie bei jedem Festival Preise. Dieses Mal sogar vier: zwei Publikumspreise und zwei von der sechsköpfigen Jury verliehene Preise. Ich beschränke mich auf die beiden Jury-Preise:

Der Jurypreis „Bester Film“ ging an „The Girl Beyond“ von Alexander Badem & Leon Eisemann. Der Film spielt in einem einzigen Raum in einem Bordell. Eine junge Frau wird mit einem Freier bei der Arbeit gezeigt. Während sie ihre Sexarbeit ableistet, wechseln sich in ihren Gedanken Szenen erfahrener Gewalt und Szenen erlebten Kinderglückes ab. Die guten Erinnerungen scheinen ihr die Kraft zu geben, gegen Widerstände weiterzumachen. Nachdem der Freier gegangen ist, steht sie auf dem Balkon. Es ist offen, ob sie Suizid begehen will. Dann klopft es – sie verlässt den Balkon und öffnet die Tür. Was gibt Menschen die Kraft, nicht aufzugeben? Wie kann der Glaube lebensdienlich ins Spiel kommen?

Den Jurypreis „Bester Raum“ gewann „Wenn Räume reden könnten“ von Thomas Hartel. Aus Sicht einer Wohnung werden sozusagen Geschichten der Räume erzählt, wenn sie denn reden könnten. Am Anfang  eine helle, leere Wohnung. Ein junges Paar besichtigt sie. Es zieht ein. Die neu eingerichtete Wohnung nimmt Gestalt an, wird persönlicher. Das Paar ebnet sich seinen gemeinsamen Weg durchs Leben. Die beiden gehen zur Arbeit oder bleiben beim Arbeiten zuhause. Sie essen, trinken, feiern, streiten, schauen Fernsehen. Der Mann wird krank, muss zuhause bleiben, sie pflegt ihn. Unversehens geht es ihm immer schlechter. Er stirbt. Die Frau bleibt mit ihrer Trauer allein in der Wohnung zurück. Sie zieht aus. Die Wohnung ist leer. Ein junges Paar kommt, um die Wohnung zu besichtigen. Das Leben geht weiter, immer weiter, in immer neuen Konstellationen, im hellen und dunklen Räumen des Lebens, auf der Erde und darüber hinaus.

„Du stellst meine Füße auf weiten Raum“: Im 31. Psalm werden ambivalente Lebenserfahrungen und das Festhalten am Vertrauen auf Gott kontrastiert und doch zusammengehalten. Was für Ambivalenzen es sind, in denen wir leben, haben allein schon die angesprochenen Filme plastisch vor Augen geführt. Im Psalm werden dazu Raum-Bilder von Gott gestellt, etwa wenn von Gott als dem schützenden Fels oder einem bergenden Haus die Rede ist. Geborgenheit und Freiheit haben ihren Grund in Gottes Freundlichkeit, in Gottes Güte. Wer sich darauf verlassen kann, darf sich freuen: „Jetzt kann ich jubeln und fröhlich sein, weil ich deine Güte erfahren habe“(Vers 8).

Dem steht entgegen, was das Leben eng macht, es gefährdet, mich als Person in Frage stellt, wo ich keinen Raum zum Leben habe. Worin besteht dann in all dem die Freundlichkeit Gottes? Gott weiß um mein bedrängtes Leben. Das ist wie bei der Befreiung der Israeliten aus der Unterdrückung in Ägypten. Im Psalm heißt es entsprechend: „Du hast gesehen, wie sehr ich leide, und erkannt, in welcher Not ich bin. (…) Du hast mich auf weites Feld gestellt, wo ich mich frei bewegen kann“ (Verse 8 und 9).

Das macht innerlich frei. Der Film „(Auf)gefangen“ versuchte das, was so schwer darstellbar ist, in Bilder zu fassen. Eine junge Frau steht auf einer Wiese in einem Park. Sie ist bedrückt. Ihrem Gesicht und ihrer Körperhaltung ist zu entnehmen, wie sie dem, was sie bedrückt und gefangen nimmt, immer mehr entkommen kann. Schließlich steht sie mit einem freudigen Gesicht im weiten Raum. Wer glaubt, kann die Erfahrung machen, Schweres ausgehalten, durchgehalten, überlebt, überstanden zu haben. Mit Gottes Hilfe. Mit Gottes Güte und Freundlichkeit kann ich mich frei bewegen, immer wieder neu. Und mein Leben gestalten.

„Du, Gott, stellst meine Füße auf weiten Raum“. Ich habe das noch besser verstanden durch das 3. KURZStummFilmFestival. Ich freue mich schon auf das vierte Festival am 17. und 18. Mai 2019 in der Zeche Carl. Das neue Thema: Gelb. Ich bin gespannt.

Andreas Müller