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Der Glaube an Gott braucht Gespräch, Begegnung und Erproben

Erbarmt euch derer, die zweifeln. (Judas 22)

Dieser Vers ist dem Judasbrief entnommen, der wahrscheinlich im 2. Jahrhundert nach Christus in einer christlichen Gemeinde im Nahen Osten verfasst worden ist. Er ist eine Kampfschrift gegen Irrlehrer, die in der jungen Gemeinde oder in ihrem Umfeld auftauchten. Es gibt viele Vermutungen, um welche Irrlehrer oder besser welche andere Richtung des jungen Christentums oder verwandte religiöse Strömungen es sich gehandelt haben kann. In der theologischen Literatur halten sich die wildesten Spekulationen.
Wer den kurzen Brief im Neuen Testament liest, merkt schnell: Er ist selbst in seinem Ton beleidigend und in seinen Argumenten nicht sonderlich innovativ.
Aber seine Ausgangslage bleibt aktuell. Wie gehe ich mit Andersdenkenden um, mit Menschen, die um Antworten auf ähnliche Fragen ringen?
Als jemand, dem der Glaube an Gott lebenswichtig ist und der seine Heimat in den theologischen und ethischen Überzeugungen der evangelischen Glaubensgemeinschaften gefunden hat, liegt mir an der Verbreitung einer am Evangelium orientierten Sichtweise auf Fragen des Lebens. Und immer häufiger erlebe ich in Gesprächen, dass das jeweilige Gegenüber aus einer völlig anderen Erfahrungs- und Wertewelt heraus denkt und argumentiert. Da ist für ein Gespräch ganz viel gemeinsame Übersetzungsarbeit gefragt.
Viele Menschen in unserer Gemeinde kommen aus Ländern mit anderen kulturellen Hintergründen oder aus Gesellschaften, die zum Beispiel durch den Islam geprägt sind. Aber (auch) sie leben eine ausgeprägte Religiosität.
Auch den jungen Menschen, denen wir in der Schule, im Kirchlichen Unterricht begegnen, sind viele unserer Glaubensüberzeugungen und unsere religiösen Traditionen unbekannt.
In meinem Dienst treffe ich auf Menschen, die nach Lebenskrisen in tiefe Zweifel geraten sind. Denen ihre vertrauten Glaubensüberzeugungen und die Antwortversuche ihrer Kirche keine Stütze mehr bieten.
Da helfen keine Patentrezepte, keine allgemein gültige Wahrheit und keine vollmundigen Erklärungsversuche der Welt und des Lebens.
Es heißt für mich vielmehr, mit Verständnis, Neugierde und Bereitschaft zum Hinhören auf die Menschen zuzugehen und Werte unseres Glaubens auszutauschen.
Deshalb liegt mir daran, was das Wort Erbarmen in diesem Vers aus dem Judasbrief betonen könnte. Es bedeutet für mich nicht, mitleidig auf den Anderen herabzublicken. Es geht um ernsthaftes Aufeinander-Zugehen, den Mut, Fragen zu stellen und gleichberechtigt unbequeme Fragen zuzulassen.
Menschen, die die Wahrheit für sich gepachtet haben, sind mir schon immer suspekt. Eines habe in meinem Dienst gelernt: Auch der Zweifel hat seine Würde.
Ich habe es im Nachhinein als bereichernd erlebt, Elemente des eigenen Glaubens an Gott zuweilen zu hinterfragen und habe erfahren: Nicht jedes menschliche Denken, auch nicht unser Glaube, sind für Ewigkeit in Stein gemeißelt. Der Glaube an Gott braucht Gespräch, Begegnung und Erproben.

Martin Breetzke-Stahlhut