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Bergpredigt 2.0

Aufgewachsen in einem Elternhaus, das auch in den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts seine braune Verstrickung nicht wirklich überwunden hatte, kämpfte ich mich in meiner Pubertät mit Hilfe meiner Lehrer zu differenziertem und tolerantem Denken durch. Und kämpfte (oft vergeblich und mit Blessuren) an gegen die schamhaft verleugnende Intoleranz meiner Verwandten, mit der sie sich als rechtschaffene Bürger inszenierten.

Als Frau der Kirche fiel es mir später leicht, tolerant zu sein – war es doch ganz der Mainstream, zu dem ich nun gehörte.

Jahrzehntelang ist es mir seitdem nicht in den Sinn gekommen, auch nur ansatzweise zu erwägen, dass Toleranz nicht die einzige mögliche Haltung für mich sein könnte: Selbstverständlich sollte jeder Mensch nach seiner Fasson leben dürfen, in seiner Religion die Seligkeit finden, die Gewohnheiten pflegen dürfen, die ihm vertraut und angestammt waren, seine Wahrheiten aussprechen dürfen, wie es ihm beliebt…

Bis – ja bis mein Kollege in der vergangenen Woche von einem seiner Konfirmanden erzählte, den ein muslimischer Sportskamerad heftig angegangen war mit dem Satz: Eure Bibel lügt! Euer Gott ist nichts wert.

Verstört und hilflos fragte der Konfirmand seinen Pfarrer nach der richtigen Antwort.
Welche Antwort, so fragten wir Kollegen uns, empfehlen wir unseren Konfirmanden und allen Gemeindegliedern, wenn ihnen solche Dinge passieren?

Wenn Toleranz und Respekt gegenüber unserer Tradition und Religion nicht selbstverständliche Voraussetzung der Auseinandersetzung sind? Wenn differenziertes Denken nicht die Basis des Gesprächs ist? Wenn die Frage nach dem Glauben zur aggressiven Formel gerinnt?

Seit vergangener Woche frage ich mich, ob meine Toleranz vielleicht von manchem auch als Schwachheit verhöhnt werden kann. Ob meine Bereitschaft, anderen ihr Eigensein zuzugestehen, mich selbst zum „Opfer“ taugen lässt, zum Opfer, das die Machos dieser Welt dazu einlädt, nachzutreten?

Seit vergangener Woche erlaube ich mir die gedankliche Intoleranz – und die Bereitschaft zum Undifferenzierten: Was mir heilig ist – mein Gott und meine Bibel – das werde ich nicht unwidersprochen beleidigen lassen.

Ich schäme mich. Es kann doch nicht sein, dass Gott eine solche Haltung von uns erwartet!

Ich kann mich doch nicht all die Jahre so geirrt haben!

Ich lese die Bergpredigt und frage im Moment noch ratlos: Wer lehrt mich, sie neu zu verstehen und ihr bedingungslos zu vertrauen – auch heute, morgen, und…?

Anke Augustin